Freitag, 6. August 2010
Was soll man davon halten?

Laut Amazon sind die Ebooks im Kommen. Angeblich verkauft der Branchenriese in den USA mehr digitale als gebundene Bücher. Im Juni dieses Jahres kamen auf 100 verkaufte Hardcover-Ausgaben 180 Ebooks. Leider ist diese Nachricht nur eine Firmeninformation von Amazon, also Werbung. Auf Nachfragen gibt’s von dort keine Antwort. Dabei wäre es interessant zu wissen, ob weniger Kunden mehr kaufen oder ob die steigende Anzahl der Buchverkäufe auch die Zahl der Leser erhöht hat. Dass überhaupt noch gelesen wird, ist jedenfalls erfreulich Das meint auch Jens Jessen. In der ZEIT schrieb er kürzlich:

"Hurra, wir lesen noch! Die Statistiken belegen keinen Niedergang der Schriftkultur. Und auch im Internet wird vor allem eines getan: gelesen..."

Im weiteren Verlauf des Beitrags folgen dann aber doch Einschränkungen und zum Schluss heißt es: "Kurzum, Wer über den Niedergang des Lesens spricht, muss genauer sagen, was er meint. Meint er tatsächlich die Kulturtechnik? Oder meint er das gute Buch? Meint er die Absatzsorgen einer Branche oder den Verfall von Bildung? Auch das ließe sich diskutieren – es wäre aber eine ganz andere Diskussion. Man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten oder, besser gesagt, nicht das Badewasser mit der Wanne verwechseln."

Trüber lasen sich vor knapp neun Monaten – ebenfalls in der ZEIT – die Gedanken zur Lesekultur. "Ein Land verlernt das Lesen", warnte Roman Pletter damals und er verwies darauf, dass Banker Lesekurse besuchen, Studenten abstrakte Texte nicht mehr verstünden und Schulbuchverlage klassische Texte zum besseren Verständnis kürzten.

Ganz neu ist das alles nicht. Schon zu John F. Kennedys Zeiten wurde die Technik des Schnelllesens propagiert, um die Masse der Informationen zu verkraften und wie Reader’s Digest gewichtige Werke der Weltliteratur ausdickt und herunter verdünnt, ist seit langem bekannt. Hoffen wir, dass es nicht Schule macht, wenn Mütter ihren Kindern statt Gutenachtgeschichten aus dem Duden vorlesen (zwecks Wissensvermittlung) und dass Blogger meinen, es hebe die Lesekultur, wenn sie das eigene Blog mehrmals täglich lesen.




Sonntag, 18. April 2010
Von Liebe keine Spur


Was ist denn eigentlich los mit den Deutschen? Sie spotten über veraltete bürgerliche Gesetze, plädieren für Unnachgiebigkeit gegenüber kirchlichen Sündern, lächeln milde über abgeschaffte Kuppelei- und Kranzgeldparagrafen und haben von der ersten "Angebeteten" oder geschiedenen Ex noch immer so etwas wie ein Andachtsbildchen in Besitz. Abgekommen ist ihnen allerdings häufig ein Glaubensbekenntnis nebst einigen Geboten und auch mit dem Grundgesetz können sie nicht, wie es mal ein Innenminister (Höcherl) formulierte, "den ganzen Tag unterm Arm herumlaufen". Die meisten Tabus sind gefallen. Zwölfjährige werden übers Kamasutra in Bravo informiert, Lolita ist Geschichte und Summerhill war ja nur Provokation. Aber Pädophile, die sind des Teufels. Und in der Erziehung? Da müssen Grenzen gesteckt werden, sagt Bernhard Hueb (ehemals Leiter des Elite-Internats Salem) und lobt vehement die Disziplin, während die Weizsäcker-Tochter Beatrice bekennt: "Liebe, das ist ein klassisches Wort, das in unserer Familie nicht vorkommt." Und dann die Literatur. Vergewaltigungen von Kindern, Drogen? "Das ist total interessante Literatur", wie es kürzlich eine prominente Literaturkritikerin (Iris Radish) formulierte. Über die Geschichte und den Verfolgungswahnsinn gegen die "namenlose Liebe" (Schwule) findet man mindestens ein Blog (dort ist allerdings von Liebe keine Spur), und auch Pornographie wird – warum denn nicht? - lustvoll genossen. Wenn hin und wieder ein Schüler durchknallt und Amok läuft, verkünden neue Waffengesetze strengere Sicherheitsmaßnahmen. Und wie war das noch mal mit der spätrömischen Dekadenz? Ach wäre doch unser Außenminister im Innern geblieben und hätte aus dem gegebenen Anlass besser Das kalte Herz (Wilhelm Hauff) zitiert. Altkanzler Kohl jammert, dass wir uns daran gewöhnt haben auf einem sehr hohen Niveau zu jammern und den meisten Bloggern wird vorgeworfen Motzblogger (sic!) zu sein. Schämen ist out, aber als neues deutsches Wort wurde fremdschämen vom Duden aufgenommen. Und demütig geworden sind nicht nur die Frommen, sondern auch immer mehr Politiker (wenn’s stimmt). Angela Merkel moderiert.

Was noch nicht ausprobiert wurde wäre ein neuer Deutschtest für alle - also nicht nur für Ausländer, die Einbürgerung wünschen. Nein, nicht nach der Anzahl der Bundesländer müsste gefragt werden, nicht welche Strophe der Nationalhymne gesungen wird oder ähnliches. 10 Gedichte sollten abgefragt werden mit dem Ziel Empathie zu wecken, unethisches Verhalten zu verhindern, Kritik zu fördern und Mut zur Meinungsäußerung. Selbstverständlich sollte der Test auch bei Alkoholkontrollen eingesetzt werden, statt der albernen Röhrchenpusterei. Wer alle 10 Gedichte aufsagen kann, wird nicht weiter auf Promille überprüft. Das sollte doch genügend Anreiz sein bei einem durchschnittlichen Jahresverbrauch von fast 10 Litern reinen Alkohols pro Bundesbürger. Über den Kanon müsste man sich noch einigen. Der Vorschlag fürs erste Gedicht steht:

Wir werden uns wiederfinden im See,
du als Wasser,
ich als Lotusblume.
Du wirst mich tragen,
ich werde dich trinken.
Wir werden uns lieben vor aller Augen.
Sogar die Sterne werden sich wundern:
hier haben sich zwei wiedergefunden in ihrem Traum
der sie erwählte.

(Rose Ausländer 1901 - 1988)



Dienstag, 16. März 2010
Zur aktuellen Diskussion


Make Love not War

Diese Parole der 68er und Hippies hat die Gesellschaft weder sexuell enthemmt noch friedfertiger gemacht. Schuld am Kindesmissbrauch kann man ihr deshalb nicht vorwerfen. Ebenso wenig wie den frommen Flagellanten und dem Zölibat. Nicht einmal die genüsslich beschriebenen Martern in manchen Heiligenlegenden sind der Grund für Folter und Sadomasochismus. Aber Einfluss auf unser Denken hatten sie alle, mehr oder weniger. Wahrscheinlich hat gerade die Liberalisierung der Sexualität den Missbrauchsopfern an kirchlichen und weltlichen Schulen das offene Reden über das an ihnen begangene Unrecht ermöglicht.

Per Zufall und nicht unpassend zur aktuellen Diskussion haben wir einen interessanten Titel entdeckt, dessen Cover der hier abgebildete Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert ziert.
Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte
Historisch-psychologische Geschichte der Geißelungsinstitute, Klosterzüchtigungen und Beichtstuhlverwirrungen aller Zeiten.
Nach dem Italienischen des
Giovani Frusta *

Hinter dem Pseudonym Giovani Frusta verbirgt sich der Jurist und Schriftsteller Carl August Fetzer und veröffentlicht wurde das Buch 1834 in J. Scheible's Verlags-Expedition. Der Reprint erschien in der Medien-
gruppe König und kostet 19,80 €

* Hinweis: Das Buch wurde von Google digitalisiert. Zu finden ist es unter www.books.google.de und kann dort kostenlos heruntergeladen werden.

Vermutlich steckt dahinter keine antiklerikale Boshaftigkeit, weil es doch auch von Weltbild im Angebot geführt wird und bei diesem Riesen der Buchbranche achten immerhin kirchliche Gesellschafter aus 14 Diözesen (u.a. auch aus der Augsburger Diözese des Bischof Mixa) auf ein sauberes Geschäft. Anders als das voyeuristische Pornobildchen auf dem Einband (das auf dem Original fehlt), zeigt dieses Buch am Beispiel des Flagellantismus ganz sachlich, dass sich Gesellschaften, Kulturen, Religionen durch alle Jahrhunderte beim Thema Sexualität immer wieder in einem Dickicht von Aberglaube, Betrug, Lüsternheit, Wollust, Brutalität und Grausamkeit verirrten. Selbst heilige Vorbilder waren davon nicht ausgenommen. So soll die heilige Brigitta von Schweden schon als zehnjähriges Mädchen regelmäßig nackt vor einem Kruzifix gebetet haben. Dabei überrascht, wurde sie von ihrer Tante mit der Rute gezüchtigt, fand daran Geschmack und geißelte sich von da ab selber in der Gegenwart ihrer Mutter. Auch ihrer Lieblingstochter Katharina musste sich der Disziplin bei ihrem Beichtvater unterziehen. Und noch energischer betrieb die heilige Elisabeth von Thüringen ihre Disziplin zusammen mit dem blutgierigen Ketzerrichter Konrad von Marburg.

Im Schlusswort seines Buches bemerkt dann Carl August Fetzer (alias Giovani Frusta) vor 176 (!) Jahren:

"Nach allem dem, was wir in unserem Werke angeführt, müssen wir besonders den Wunsch ausdrücken, die körperliche Züchtigung aus den Beichtstühlen und Kongregationen, aus der Pädagogik und den Gefängnissen, als gefährlich für Gesundheit, Sittlichkeit und Schicklichkeit zugleich, aus den Kasernen aber, als entehrend für die menschliche Würde, völlig verschwinden zu sehen."

Gemessen daran sind wir heute ein ganzes Stück weiter vorangekommen – aber eben noch nicht weit genug. Schön wäre es, wenn jetzt bei der aktuellen Verfolgung von Straftaten keine wilde Hexenjagd losgetreten würde. Kinderpornographische Scheußlichkeiten in der Literatur sollten nicht verboten, aber diskutiert und beim Namen genannt werden. Und vor allem sollte ohne Scheu gesagt werden, was menschenverachtend ist.

Vielleicht fällt ja dann auch der Literatur-Journalistin Iris Radisch zur folgenden Passage aus Axolotl Roadkill etwas anderes ein als:
"Das ist total interessante Literatur.." (s. Blog WIE MAN EINEN BESTSELLER MACHT):
"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz." (Aus Helene Hegemann, Axolotl Roadkill)

Ja und dann auch noch David Cohn-Bendit. Sein Buch "Der große Basar" ist zwar vergriffen, aber Die Zeit interviewte ihn dazu vor einer Woche (Die Zeit, Nr. 11., 11. März 2010):

Zeit: In einem 1975 veröffentlichten Buch haben Sie über Ihre Arbeit als Erzieher in einem Kinderladen geschrieben. Sie berichten dort unter anderem davon, dass Ihr Flirt mit den Kindern "erotische Züge" annahm und dass Kinder Ihren Hosenlatz geöffnet und Sie gestreichelt haben...

Cohn-Bendit: Das war kein Tatsachenbericht, sondern schlechte Literatur. Das habe ich schon oft gesagt.

Zeit: Was Sie in Ihrem Buch schildern, hatte also keinen Bezug zur Realität?

Cohn-Bendit: Nein, es war als Provokation gedacht. Jede Schrift hat ihre Zeit. Gerade solche Provokationen erweisen sich später als fatal...

Na hätte er das doch gleich gesagt...