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Laut Amazon sind die Ebooks im Kommen. Angeblich verkauft der Branchenriese in den USA mehr digitale als gebundene Bücher. Im Juni dieses Jahres kamen auf 100 verkaufte Hardcover-Ausgaben 180 Ebooks. Leider ist diese Nachricht nur eine Firmeninformation von Amazon, also Werbung. Auf Nachfragen gibt’s von dort keine Antwort. Dabei wäre es interessant zu wissen, ob weniger Kunden mehr kaufen oder ob die steigende Anzahl der Buchverkäufe auch die Zahl der Leser erhöht hat. Dass überhaupt noch gelesen wird, ist jedenfalls erfreulich Das meint auch Jens Jessen. In der ZEIT schrieb er kürzlich:
"Hurra, wir lesen noch! Die Statistiken belegen keinen Niedergang der Schriftkultur. Und auch im Internet wird vor allem eines getan: gelesen..."
Im weiteren Verlauf des Beitrags folgen dann aber doch Einschränkungen und zum Schluss heißt es: "Kurzum, Wer über den Niedergang des Lesens spricht, muss genauer sagen, was er meint. Meint er tatsächlich die Kulturtechnik? Oder meint er das gute Buch? Meint er die Absatzsorgen einer Branche oder den Verfall von Bildung? Auch das ließe sich diskutieren – es wäre aber eine ganz andere Diskussion. Man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten oder, besser gesagt, nicht das Badewasser mit der Wanne verwechseln."
Trüber lasen sich vor knapp neun Monaten – ebenfalls in der ZEIT – die Gedanken zur Lesekultur. "Ein Land verlernt das Lesen", warnte Roman Pletter damals und er verwies darauf, dass Banker Lesekurse besuchen, Studenten abstrakte Texte nicht mehr verstünden und Schulbuchverlage klassische Texte zum besseren Verständnis kürzten.
Ganz neu ist das alles nicht. Schon zu John F. Kennedys Zeiten wurde die Technik des Schnelllesens propagiert, um die Masse der Informationen zu verkraften und wie Reader’s Digest gewichtige Werke der Weltliteratur ausdickt und herunter verdünnt, ist seit langem bekannt. Hoffen wir, dass es nicht Schule macht, wenn Mütter ihren Kindern statt Gutenachtgeschichten aus dem Duden vorlesen (zwecks Wissensvermittlung) und dass Blogger meinen, es hebe die Lesekultur, wenn sie das eigene Blog mehrmals täglich lesen.
Diese Parole der 68er und Hippies hat die Gesellschaft weder sexuell enthemmt noch friedfertiger gemacht. Schuld am Kindesmissbrauch kann man ihr deshalb nicht vorwerfen. Ebenso wenig wie den frommen Flagellanten und dem Zölibat. Nicht einmal die genüsslich beschriebenen Martern in manchen Heiligenlegenden sind der Grund für Folter und Sadomasochismus. Aber Einfluss auf unser Denken hatten sie alle, mehr oder weniger. Wahrscheinlich hat gerade die Liberalisierung der Sexualität den Missbrauchsopfern an kirchlichen und weltlichen Schulen das offene Reden über das an ihnen begangene Unrecht ermöglicht.
Per Zufall und nicht unpassend zur aktuellen Diskussion haben wir einen interessanten Titel entdeckt, dessen Cover der hier abgebildete Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert ziert.
Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte
Historisch-psychologische Geschichte der Geißelungsinstitute, Klosterzüchtigungen und Beichtstuhlverwirrungen aller Zeiten.
Nach dem Italienischen des
Giovani Frusta *
Hinter dem Pseudonym Giovani Frusta verbirgt sich der Jurist und Schriftsteller Carl August Fetzer und veröffentlicht wurde das Buch 1834 in J. Scheible's Verlags-Expedition. Der Reprint erschien in der Medien-
gruppe König und kostet 19,80 €
* Hinweis: Das Buch wurde von Google digitalisiert. Zu finden ist es unter www.books.google.de und kann dort kostenlos heruntergeladen werden.
Vermutlich steckt dahinter keine antiklerikale Boshaftigkeit, weil es doch auch von Weltbild im Angebot geführt wird und bei diesem Riesen der Buchbranche achten immerhin kirchliche Gesellschafter aus 14 Diözesen (u.a. auch aus der Augsburger Diözese des Bischof Mixa) auf ein sauberes Geschäft. Anders als das voyeuristische Pornobildchen auf dem Einband (das auf dem Original fehlt), zeigt dieses Buch am Beispiel des Flagellantismus ganz sachlich, dass sich Gesellschaften, Kulturen, Religionen durch alle Jahrhunderte beim Thema Sexualität immer wieder in einem Dickicht von Aberglaube, Betrug, Lüsternheit, Wollust, Brutalität und Grausamkeit verirrten. Selbst heilige Vorbilder waren davon nicht ausgenommen. So soll die heilige Brigitta von Schweden schon als zehnjähriges Mädchen regelmäßig nackt vor einem Kruzifix gebetet haben. Dabei überrascht, wurde sie von ihrer Tante mit der Rute gezüchtigt, fand daran Geschmack und geißelte sich von da ab selber in der Gegenwart ihrer Mutter. Auch ihrer Lieblingstochter Katharina musste sich der Disziplin bei ihrem Beichtvater unterziehen. Und noch energischer betrieb die heilige Elisabeth von Thüringen ihre Disziplin zusammen mit dem blutgierigen Ketzerrichter Konrad von Marburg.
Im Schlusswort seines Buches bemerkt dann Carl August Fetzer (alias Giovani Frusta) vor 176 (!) Jahren:
"Nach allem dem, was wir in unserem Werke angeführt, müssen wir besonders den Wunsch ausdrücken, die körperliche Züchtigung aus den Beichtstühlen und Kongregationen, aus der Pädagogik und den Gefängnissen, als gefährlich für Gesundheit, Sittlichkeit und Schicklichkeit zugleich, aus den Kasernen aber, als entehrend für die menschliche Würde, völlig verschwinden zu sehen."
Gemessen daran sind wir heute ein ganzes Stück weiter vorangekommen – aber eben noch nicht weit genug. Schön wäre es, wenn jetzt bei der aktuellen Verfolgung von Straftaten keine wilde Hexenjagd losgetreten würde. Kinderpornographische Scheußlichkeiten in der Literatur sollten nicht verboten, aber diskutiert und beim Namen genannt werden. Und vor allem sollte ohne Scheu gesagt werden, was menschenverachtend ist.
Vielleicht fällt ja dann auch der Literatur-Journalistin Iris Radisch zur folgenden Passage aus Axolotl Roadkill etwas anderes ein als:
"Das ist total interessante Literatur.." (s. Blog WIE MAN EINEN BESTSELLER MACHT):
"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz." (Aus Helene Hegemann, Axolotl Roadkill)
Ja und dann auch noch David Cohn-Bendit. Sein Buch "Der große Basar" ist zwar vergriffen, aber Die Zeit interviewte ihn dazu vor einer Woche (Die Zeit, Nr. 11., 11. März 2010):
Zeit: In einem 1975 veröffentlichten Buch haben Sie über Ihre Arbeit als Erzieher in einem Kinderladen geschrieben. Sie berichten dort unter anderem davon, dass Ihr Flirt mit den Kindern "erotische Züge" annahm und dass Kinder Ihren Hosenlatz geöffnet und Sie gestreichelt haben...
Cohn-Bendit: Das war kein Tatsachenbericht, sondern schlechte Literatur. Das habe ich schon oft gesagt.
Zeit: Was Sie in Ihrem Buch schildern, hatte also keinen Bezug zur Realität?
Cohn-Bendit: Nein, es war als Provokation gedacht. Jede Schrift hat ihre Zeit. Gerade solche Provokationen erweisen sich später als fatal...
Na hätte er das doch gleich gesagt...