Sonntag, 21. Februar 2010
Babyficker

Nun wird und wurde viel über Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, berechtigtes oder unberechtigtes Plagiat und ein tabuloses Literaturverständnis geschrieben und erzählt. Einigermaßen belustigt könnten wir uns zurücklehnen und darauf warten, ob wirklich das bleibt, was Dichter stiften, oder ob noch weitere Steigerungsformen menschenverachtender sexueller Obszönitäten und Exzesse auf uns zukommen.

Babyficker würde wahrscheinlich heute, wo sexueller Missbrauch an einigen Jesuitenschulen aufgedeckt wird, keine Auszeichnung gewinnen, wie es noch 1991 beim Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Preis möglich war. Somit müsste auch Bischof Mixa nicht mehr den 68ern und der sogenannten „sexuellen Revolution“ Schuld zuweisen. Er könnte ganz einfach einen Spiegel von damals zitieren und entkäme so der Häme, die jetzt über ihn ausgeschüttet wird:

Es hat ein herber Klimawechsel stattgefunden in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Obszönität und extreme Brutalität, bislang streng geächtet, sind herangewachsen zu salonfähiger Unterhaltung - während doch gleichzeitig die verunsicherte, verstörte Menschheit die explosive Zunahme realer Gewalt gegen Ausländer, in Schulen, auf der Straße, in Fußballstadien und öffentlichen Verkehrsmitteln verdammt. Durch viele kulturkritische Köpfe geistert schon der apokalyptische Freudsche Lehrsatz: "Der Verlust des Schamgefühls ist ein Zeichen von Schwachsinn." - SPIEGEL 2 / 1993

Einer der Juroren, der 1991 für die Auszeichnung der Skandalerzählung "Babyficker" des Urs Allemann stimmte, war der Literaturkritiker und damalige Spiegelredakteur Hellmuth Karasek. Über das, was Literatur kann und darf, wurde schon immer diskutiert. Karasek im Spiegel 28/1991:

"Ich ficke Babys. Mehr Obszönitäten, mehr rohe Tabuverletzungen kann man mit drei Worten in einem Satz gewiss nicht begehen. Das bekennerhafte, durch keine Scheu gebremste ICH des Satzes, der Tatbestand des abscheulichsten sexuellen Missbrauchs, die Wehrlosigkeit der Opfer – all das macht diesen Kurz-Satz zum gewiss unverschämtesten Auftakt, den sich ein literarischer Text, gleichsam als grell misstönende Fanfare wählen kann... Aber: es ist ein literarischer Satz..."

Und dann führt der belesene Karasek aus, dass die Geschichte der Literatur vor allem eine Geschichte der Skandale ist, wo oft Verbrecher als Helden gefeiert werden.

Als Beispiel nennt er Mörder (Woyzeck), Kindermörder (Medea), Königsmörder (Macbeth), Knabenliebe und Inzest sind keine Seltenheit, nicht zu reden von den Höllenphantasien eines Marquis de Sade. "Literatur", so Karasek, "erprobt und beschreibt die Grenzenlosigkeit menschlichen Denkens."

Mag sein und trotzdem: Shakespeares "Hamlet", Thomas Manns "Tod in Venedig", Charlotte Roches "Feuchtgebiete" und Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" – alles dieselbe Stufe? Ein bisschen mehr Wertung hät ich mir von Literaturkritikern schon erwartet. Immerhin: Das Buch von Urs Allemann, "Babyficker" ist nicht mehr lieferbar. Was Dichter stiften, bleibt halt doch nicht immer.




Mittwoch, 10. Februar 2010
Nachhilfe für Helene Hegemann

Im Branchenmagazin Buchmarkt antwortet Helene Hegemann am
7. Februar auf Plagiatsvorwürfe in ihrem Roman Axolotl Roadkill.
Wir zitieren in Auszügen:

„Da sind diese Plagiatsvorwürfe - also wie das juristisch ist, weiß ich leider nicht so genau. Inhaltlich finde ich mein Verhalten und meine Arbeitsweise aber total legitim und mache mir keinen Vorwurf, was vielleicht daran liegt, dass ich aus einem Bereich komme, in dem man auch an das Schreiben von einem Roman eher regiemäßig drangeht, sich also überall bedient, wo man Inspiration findet. Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit... Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir (dieser Satz ist übrigens von Sophie Rois geklaut) – ich habe eine Sprache antrainiert gekriegt als Kind und trainiere mir jetzt immer noch Sachen und Versatzstücke an, aber mit einer größeren Stilsicherheit..."

Bücher AbissZ meint: Da hat sie doch völlig recht, die Helene Hegemann. Und das erinnert mich total an die eigene Schulzeit und den Vorwurf "abgeschrieben" zu haben. Was beweist es denn schon, wenn zwei Schüler in der Klassenarbeit die absolut gleichen Fehler machen? Dass sie abgeschrieben haben? Nein, dass sie vom gleichen Lehrer unterrichtet werden!




Dienstag, 9. Februar 2010
Wie man einen Bestseller macht

Es war eine überaus erfolgreiche konzertierte Aktion: Innerhalb von gut 14 Tagen priesen die Medien bis in die Provinz hinein das Erstlingsbuch des literarischen Shootingstars Helene Hegemann. Solches Echo hat selbst die "Atemschaukel" erst Monate nach Erscheinen gefunden und erst nachdem Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Ein Lob der Presseabteilung des Ullstein Verlags! Wie die es geschafft hat in nullkommanix die Kulturredaktionen in allen Himmelsrichtungen auf Axolotl Roadkill einzuschwören, wir wissen es nicht. Gewusst wie hätten wir schon gern ... Hier die Chronologie der Meinungsmache:

21. Januar
"Literarischer Kugelblitz"
titulierte Die Zeit ihre Besprechung. Da wir selbst noch nie einen Kugelblitz gesehen haben, ja nicht mal wissen, ob es ihn wirklich gibt, haben wir gleich weitergeblättert, zurück zu einer der frühesten Rezensionen im Spiegel :

18. Januar
"Das Wunderkind der Boheme..."
...lesen wir dort. Wunderkind? Unsereiner denkt da eher an Mozart, vielleicht auch noch an "Wir Wunderkinder" und Hugo Hartung. Die falsche Fährte. Die WAZ reißt uns wieder in die Gegenwart:

20. Januar
"17-Jährige schreibt über Drogen, Sex und Verwahrlosung"
Wem das noch nicht genügt, dem sagt es die FAZ drei Tage später noch deutlicher:

23. Januar
"... Man vertreibt sich so die Zeit, sieht Dokudramen über belgische Pinguinfetischisten und Vergewaltigungen von Achtjährigen, liest aufgeklärte Belletristik über pakistanische Psychoanalytiker und die gesammelten Klassiker der Poptheorie, schläft mit taxifahrenden Schauspielern und der besten Freundin, fuchtelt kurz mit der geklauten Halbautomatikpistole, kippt auch den achten Wodka Tonic, streitet noch etwas über Foucault, den Feminismus und die Furunkel am Hintern von Karl Marx und verschwindet dann hinter der Stahltür einer Bar oder unter zerkoksten Medienleuten auf vierhundert Quadratmetern Parkettboden irgendwo in Berlin..."


Die Headline der Focus-Besprechung erinnert an Lieder von Peter Maffay? oder Udo Jürgens? – auf jeden Fall mitleidig. Wir lesen:

25. Januar
"Sie ist erst 17
Die erste Auflage ist schon weg, berichtet der Ullstein Verlag, ohne Zahlen zu nennen. Im Buchhandel wird es eine vergleichbare Leserschaft ansprechen wie die Bücher von Christian Kracht ("Faserland") oder Charlotte Roche ("Feuchtgebiete"). Die Literaturkritik kann das Werk als Parforce-Ritt durch ein Teenagerleben im Berlin der nuller Jahre feiern."


Wunderkind oder Fräuleinwunder? Was hat der Literaturbetrieb für Attribute und passen die? Darauf antwortete der Literaturredakteur Florian Illies im Deutschlandfunk:

"... man kann sich einfach freuen, dass offenbar Qualität spürbar ist. Es ist ein Buch nicht nur mit einem fast unaussprechlichen Titel, diesem "Axolotl Roadkill", sondern auch ein sehr, sehr schweres, sperriges Buch, und zugleich springt einen spätestens ab der zweiten Zeile an, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Und ich glaube, dieses Moment, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen Werk einer tatsächlichen außergewöhnlichen Literatur zu tun hat, der ist offenbar all den Kollegen in den verschiedensten Redaktionen ganz ähnlich gegangen. Also ich empfinde das gerade jetzt als einen Gegenteil von Hype, sondern ein Beweis für die Wachheit der Literaturkritik, dass sie trotz all dieser naheliegenden Kategorisierungen es trotzdem wagt, hier mit solch großen Trompeten dieses Buch zu preisen.


Ganz schön brutal befindet die taz:
27. Januar
"Souverän in die Fresse gefeuert
Doch dann öffnet sich zwischen Kotz- und Sperma-Pfützen eine saubere Prosafläche, und man stellt fest: Das Buch ist wirklich gut. Spätestens, als die in einem Drei-Geschwister-Haushalt ohne Eltern aufwachsende Mifti versucht, im Supermarkt ein Huhn zu kaufen, und dabei einer Zufallsbekanntschaft eine Analyse ihrer dysfunktionalen Intellektuellenfamilie vor die Füße kotzt, verschwinden alle Etiketten. Der Text steht für sich selbst."


Und die Süddeutsche Zeitung klagt:
29. Januar
"Sehr jung, sehr hardcore. Warum setzt junge Literatur fast immer auf Exzess?"
Vielleicht ist es so wie die Badische Zeitung in Freiburg/Br. (dem Geburtsort der Helene Hegemann) schreibt:

30. Januar
"Ein Leben im Horrorfilm
Überall strecken einem Monster und Zombies ihre grinsenden Grimassen hin, watet man durch Lachen von Blut und Kotze und Sperma, wird man brutal vergewaltigt und einem die Haut vom Rücken abgezogen."

Soll man sich vor solchen Horrorfilmen gruseln, schaudern oder ekeln? Eher schaudern, könnte man der Frankfurter Rundschau entnehmen. Ihr Beitrag:

2. Februar
"Ein Fall finsterster Romantik
Das Aufregende an neuen, guten Büchern ist, dass man die Gegenwart mit einem Mal deutlicher und intensiver wahrzunehmen meint. Es zeigt sich ein Ton oder eine Facette, die man vorher einfach nicht gespürt hatte. Sie werden dann im besten Fall Teil des eigenen Lebens. Am stärksten ist das so bei guten Debüts. Und schon lange gab es keinen Erstling mehr, wo dieser Effekt stärker war..."


Irgendwie ärgert uns, dass wir als Newsletter-Abonnent des Ullstein Verlags noch immer keine Informationen über Helene Hegemann und ihren Roman erhalten haben. Erst heute ist es soweit. Jetzt präsentiert der Ullstein-Newsletter auch Pressestimmen mit dem Hinweis, dass "das noch neue Jahr bereits sein erstes literarisches Highlight erlebt."

Die Antwort auf das, was wir schon immer wissen wollten aber nicht zu fragen wagten, erfahren wir im Südkurier, Konstanz:

5. Februar
"Das Skript des eigenen Lebens
... Ausgehen ist wichtig, dabei sein, Drogen probieren. Sie liebt eine Fotografin, ist aber auch am anderen Geschlecht interessiert, an seiner Andersartigkeit. Sie entscheidet sich spontan, sich von einem Taxifahrer ihre Unschuld nehmen zu lassen, um zu spüren, wie das Penetriertwerden sich anfühlt. Anonymer Sex ist doppelt geil."


8. Februar
Amazon.de
hat bis dato 14 Kundenrezensionen gesammelt, die für Axolotl Roadkill aber nur insgesamt 2,5 Sterne (von 5 möglichen) verteilen. Zum gleichen Zeitpunkt findet man bei Weltbild.de erst einen einzigen Kundenkommentar, der das Buch allerdings in höchsten Tönen preist und dafür 5 Sterne (Note "ausgezeichnet") verteilt: "... Weil dieses Buch dermaßen authentisch "rüberkommt", wird man selbst als gestandene Sozialarbeiterin zum völlig hilflosen Helfer und bricht vor Mitgefühl immer wieder in Tränen aus..." Ach ja, sie ist erst 17..., schluchz.
Der Sortimentsbuchhandel hat noch keine eigene Meinung. Auf den Homepages der Buchhandlungen findet man außer dem Waschzetteltext des Verlags nur abgekupferte Rezensionen.


8. Februar
"Axolotl Roadkill" erreicht unter den Spiegel-Bestsellern den 17. Platz. Und dann der Hammer im Spiegel:

"Literaturwunderkind schrieb bei Blogger ab
Jetzt kommt heraus: Helene Hegemann hat Teile ihres erfolgreichen Romandebüts "Axolotl Roadkill" abgeschrieben. Sie gibt es zu - und entschuldigt sich bei einem Berliner Blogger."



11. Februar
"Wie mich das alles ankotzt" – Die Medien-Hype um die 17jährige Schriftstellerin Helene Hegemann
Zu diesem Thema diskutierten in SWR2 Forum:
Georg Diez, Feuilletonist, Berlin
Andrea Hünniger, Jungautorin und Reporterin, Zürich
Iris Radisch, Literaturkritikerin, "Die Zeit", Hamburg
Moderation: Michael Köhler

Iris Radisch zitierte folgende Passage aus "Axolotl Roadkill":
"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz."


Michael Köhler fragte: Ist das gute Literatur, Frau Radisch?

Iris Radisch antwortete:
"Das ist total interessante Literatur, weil die so unglaublich beweglich ist und weil sie eben von so Versatzstücken, wie ich sie eben vorgelesen habe, wieder zu ganz neuen Sachen kommt, weil man wirklich bei jeden Satz nicht weiß wie die Straße weitergeht und welche Wendung sie eigentlich nimmt und das ist natürlich das, was ich mir von Literatur wünsche, dass sie total unerwartbar ist und was ich sonst so selten in der deutschen Literatur im Augenblick finde."


Ob Frau Radisch auch über die Antwort ihrer fast 17jährigen Tochter nachdenkt? Die sagte nach Lektüre von "Axolotl" auf die Frage ihrer Mutter:

"Weißt du, Mama, die Tante ist mir viel zu kaputt."