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Skandalbücher. Ohne sie wäre es langweilig! Wenn uns nichts mehr erregt, was wollen wir dann noch verändern? Wir könnten uns altersmüde weise zurücklehnen, ein bisschen stilvoll rumbloggen, nur noch sanften Seelenbrei aus den Büchern löffeln und zum Einschlafen ein Revolutionsliedchen summen.
Skandalös ist, dass die meisten Skandalbücher nur noch zum Hype verkommen, zum Medienrummel, zur marktgesteuerten Provokation. Sie regen nicht mehr wirklich auf. Ihr Rezept ist einfach: Ein bisschen Enthüllung, z. B über verhasste Verlegerwitwen oder unliebsame Kritiker,
etwas Erotik, aber dreckig und feucht wie in.... Sie wissen schon...,
Ein Schuss Blasphemie, und bitte viel Blicke durchs Schlüsselloch, auf die Altäre (vor und dahinter), Politik (ich gebe Ihnen mein Ehrenwort), schmutzige Geschäfte und die Machenschaften der Geheimdienste und Geheimbünde, Gegensätze der Kulturen nicht zu vergessen; dazu ein paar nationalsozialistische Floskeln und eine Brise antijüdischen Unsinn: Alles fertig für die Erregung, den Hype, das Skandalbuch. Jetzt kann die Sau durchs Dorf gejagt werden!
Wie’s richtig angemacht wird, verspricht die Berliner Werbeagentur Lohmüller auf ihrer Homepage. Vier Fallbeispiele werden dort vorgestellt: ein Verlag, ein Autohaus, eine kassenärztliche Vereinigung und ein Rundfunksender. Und für alle wird nach dem gleichen Muster gestrickt: Strategie – Design – Kampagne – Skandale – Kontinuität. Bei der Verlagskampagne heißt es: „Provokante und schonungslose Headlines werden zu einem Instrument der Publikumsansprache.“
Da kann kaum was schiefgehen. Bliebe höchstens noch die Frage nach der Verantwortung für alles. Liegt die beim Autor? Wird diese von der Agentur getragen oder vom Verlag? Oder geht es den Verlagen nur ums Geld?
Der nächste Hype kommt bestimmt – wenn er nicht schon da ist!
... das ist so eine Sache. Gezwungenermaßen Ja, wenn es keinen
Fluchtweg gibt. Aber freiwillig? Ohne Grund? Sozusagen schuldlos? Und außerdem: Kopf hinhalten für wen? Und warum? Unschuldige schützen?
Schuldige decken? Aus Trotz, aus Verantwortung? Das Ende, Verzweiflung, Resignation, Ausweglosigkeit, Unsicherheit, Angst in Kauf nehmen. Eine Frage der Ehre?
Da bleibt wenig Heroismus, auch wenn die Nachweilt ein Denkmal baut.
Und unabhängig von Geschichtsschreibung und Mythenbildung die Frage: Ob es auch heute noch Bürger gibt, die für ihre Stadt den Kopf hinhalten würden –
so wie die Bürger von Calais?
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Quelle: Die Bürger von Calais (bei: Auguste Rodin, Chronik, Mythos, Drama)
Diese Parole der 68er und Hippies hat die Gesellschaft weder sexuell enthemmt noch friedfertiger gemacht. Schuld am Kindesmissbrauch kann man ihr deshalb nicht vorwerfen. Ebenso wenig wie den frommen Flagellanten und dem Zölibat. Nicht einmal die genüsslich beschriebenen Martern in manchen Heiligenlegenden sind der Grund für Folter und Sadomasochismus. Aber Einfluss auf unser Denken hatten sie alle, mehr oder weniger. Wahrscheinlich hat gerade die Liberalisierung der Sexualität den Missbrauchsopfern an kirchlichen und weltlichen Schulen das offene Reden über das an ihnen begangene Unrecht ermöglicht.
Per Zufall und nicht unpassend zur aktuellen Diskussion haben wir einen interessanten Titel entdeckt, dessen Cover der hier abgebildete Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert ziert.
Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte
Historisch-psychologische Geschichte der Geißelungsinstitute, Klosterzüchtigungen und Beichtstuhlverwirrungen aller Zeiten.
Nach dem Italienischen des
Giovani Frusta *
Hinter dem Pseudonym Giovani Frusta verbirgt sich der Jurist und Schriftsteller Carl August Fetzer und veröffentlicht wurde das Buch 1834 in J. Scheible's Verlags-Expedition. Der Reprint erschien in der Medien-
gruppe König und kostet 19,80 €
* Hinweis: Das Buch wurde von Google digitalisiert. Zu finden ist es unter www.books.google.de und kann dort kostenlos heruntergeladen werden.
Vermutlich steckt dahinter keine antiklerikale Boshaftigkeit, weil es doch auch von Weltbild im Angebot geführt wird und bei diesem Riesen der Buchbranche achten immerhin kirchliche Gesellschafter aus 14 Diözesen (u.a. auch aus der Augsburger Diözese des Bischof Mixa) auf ein sauberes Geschäft. Anders als das voyeuristische Pornobildchen auf dem Einband (das auf dem Original fehlt), zeigt dieses Buch am Beispiel des Flagellantismus ganz sachlich, dass sich Gesellschaften, Kulturen, Religionen durch alle Jahrhunderte beim Thema Sexualität immer wieder in einem Dickicht von Aberglaube, Betrug, Lüsternheit, Wollust, Brutalität und Grausamkeit verirrten. Selbst heilige Vorbilder waren davon nicht ausgenommen. So soll die heilige Brigitta von Schweden schon als zehnjähriges Mädchen regelmäßig nackt vor einem Kruzifix gebetet haben. Dabei überrascht, wurde sie von ihrer Tante mit der Rute gezüchtigt, fand daran Geschmack und geißelte sich von da ab selber in der Gegenwart ihrer Mutter. Auch ihrer Lieblingstochter Katharina musste sich der Disziplin bei ihrem Beichtvater unterziehen. Und noch energischer betrieb die heilige Elisabeth von Thüringen ihre Disziplin zusammen mit dem blutgierigen Ketzerrichter Konrad von Marburg.
Im Schlusswort seines Buches bemerkt dann Carl August Fetzer (alias Giovani Frusta) vor 176 (!) Jahren:
"Nach allem dem, was wir in unserem Werke angeführt, müssen wir besonders den Wunsch ausdrücken, die körperliche Züchtigung aus den Beichtstühlen und Kongregationen, aus der Pädagogik und den Gefängnissen, als gefährlich für Gesundheit, Sittlichkeit und Schicklichkeit zugleich, aus den Kasernen aber, als entehrend für die menschliche Würde, völlig verschwinden zu sehen."
Gemessen daran sind wir heute ein ganzes Stück weiter vorangekommen – aber eben noch nicht weit genug. Schön wäre es, wenn jetzt bei der aktuellen Verfolgung von Straftaten keine wilde Hexenjagd losgetreten würde. Kinderpornographische Scheußlichkeiten in der Literatur sollten nicht verboten, aber diskutiert und beim Namen genannt werden. Und vor allem sollte ohne Scheu gesagt werden, was menschenverachtend ist.
Vielleicht fällt ja dann auch der Literatur-Journalistin Iris Radisch zur folgenden Passage aus Axolotl Roadkill etwas anderes ein als:
"Das ist total interessante Literatur.." (s. Blog WIE MAN EINEN BESTSELLER MACHT):
"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz." (Aus Helene Hegemann, Axolotl Roadkill)
Ja und dann auch noch David Cohn-Bendit. Sein Buch "Der große Basar" ist zwar vergriffen, aber Die Zeit interviewte ihn dazu vor einer Woche (Die Zeit, Nr. 11., 11. März 2010):
Zeit: In einem 1975 veröffentlichten Buch haben Sie über Ihre Arbeit als Erzieher in einem Kinderladen geschrieben. Sie berichten dort unter anderem davon, dass Ihr Flirt mit den Kindern "erotische Züge" annahm und dass Kinder Ihren Hosenlatz geöffnet und Sie gestreichelt haben...
Cohn-Bendit: Das war kein Tatsachenbericht, sondern schlechte Literatur. Das habe ich schon oft gesagt.
Zeit: Was Sie in Ihrem Buch schildern, hatte also keinen Bezug zur Realität?
Cohn-Bendit: Nein, es war als Provokation gedacht. Jede Schrift hat ihre Zeit. Gerade solche Provokationen erweisen sich später als fatal...
Na hätte er das doch gleich gesagt...
Nun wird und wurde viel über Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, berechtigtes oder unberechtigtes Plagiat und ein tabuloses Literaturverständnis geschrieben und erzählt. Einigermaßen belustigt könnten wir uns zurücklehnen und darauf warten, ob wirklich das bleibt, was Dichter stiften, oder ob noch weitere Steigerungsformen menschenverachtender sexueller Obszönitäten und Exzesse auf uns zukommen.
Babyficker würde wahrscheinlich heute, wo sexueller Missbrauch an einigen Jesuitenschulen aufgedeckt wird, keine Auszeichnung gewinnen, wie es noch 1991 beim Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Preis möglich war. Somit müsste auch Bischof Mixa nicht mehr den 68ern und der sogenannten „sexuellen Revolution“ Schuld zuweisen. Er könnte ganz einfach einen Spiegel von damals zitieren und entkäme so der Häme, die jetzt über ihn ausgeschüttet wird:
Es hat ein herber Klimawechsel stattgefunden in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Obszönität und extreme Brutalität, bislang streng geächtet, sind herangewachsen zu salonfähiger Unterhaltung - während doch gleichzeitig die verunsicherte, verstörte Menschheit die explosive Zunahme realer Gewalt gegen Ausländer, in Schulen, auf der Straße, in Fußballstadien und öffentlichen Verkehrsmitteln verdammt. Durch viele kulturkritische Köpfe geistert schon der apokalyptische Freudsche Lehrsatz: "Der Verlust des Schamgefühls ist ein Zeichen von Schwachsinn." - SPIEGEL 2 / 1993
Einer der Juroren, der 1991 für die Auszeichnung der Skandalerzählung "Babyficker" des Urs Allemann stimmte, war der Literaturkritiker und damalige Spiegelredakteur Hellmuth Karasek. Über das, was Literatur kann und darf, wurde schon immer diskutiert. Karasek im Spiegel 28/1991:
"Ich ficke Babys. Mehr Obszönitäten, mehr rohe Tabuverletzungen kann man mit drei Worten in einem Satz gewiss nicht begehen. Das bekennerhafte, durch keine Scheu gebremste ICH des Satzes, der Tatbestand des abscheulichsten sexuellen Missbrauchs, die Wehrlosigkeit der Opfer – all das macht diesen Kurz-Satz zum gewiss unverschämtesten Auftakt, den sich ein literarischer Text, gleichsam als grell misstönende Fanfare wählen kann... Aber: es ist ein literarischer Satz..."
Und dann führt der belesene Karasek aus, dass die Geschichte der Literatur vor allem eine Geschichte der Skandale ist, wo oft Verbrecher als Helden gefeiert werden.
Als Beispiel nennt er Mörder (Woyzeck), Kindermörder (Medea), Königsmörder (Macbeth), Knabenliebe und Inzest sind keine Seltenheit, nicht zu reden von den Höllenphantasien eines Marquis de Sade. "Literatur", so Karasek, "erprobt und beschreibt die Grenzenlosigkeit menschlichen Denkens."
Mag sein und trotzdem: Shakespeares "Hamlet", Thomas Manns "Tod in Venedig", Charlotte Roches "Feuchtgebiete" und Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" – alles dieselbe Stufe? Ein bisschen mehr Wertung hät ich mir von Literaturkritikern schon erwartet. Immerhin: Das Buch von Urs Allemann, "Babyficker" ist nicht mehr lieferbar. Was Dichter stiften, bleibt halt doch nicht immer.
Manchmal fällt es schwer sich zu erinnern. Erinnern wir uns an den 30.11.2009: Im Rollstuhl ein sabbernder 89jähriger, über dessen schrecklicher Vergangenheit zu Gericht gesessen wird: John Demjanjuk. Beihilfe zum Mord an 27900 Juden wird ihm vorgeworfen. Demjanjuk, der Ukrainer und Sowjetsoldat, der Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor. Demjanjuk, der 1993 nach fünfjähriger Haft aus der israelischen Todeszelle freikam, aber auch weiterhin in den USA wegen seiner vermuteten Verbrechen verfolgt wurde.
In manchen Zeitungen war zu lesen, dass der Sinn von NS-Prozessen im Aussprechen der Wahrheit liegt, nicht im Urteil. Es nimmt religiöse Dimensionen an, wenn weiter geschrieben wurde, dass das Auflehnen gegen das Vergessen der einzige Dienst ist, den man den Millionen Umgebrachten – den um ihr Leben Gebrachten – noch erweisen kann. Die Wahrheit müsste jeden von uns betreffen.
Genau dieses persönliche Betroffensein vermisst man aber in der Berichterstattung der Medien. Angesichts unvorstellbarer Gräueltaten werden meistens Schuldige gesucht, denen das Versagen zugewiesen werden kann, von dem wir uns selbst freisprechen wollen. Als besonders unangenehm werden deshalb in der Öffentlichkeit diejenigen Hinweise aufgenommen, die auf Abgründe in uns selbst deuten. Erinnern wir uns:
Soldaten sind Mörder
Dieses Tucholsky-Zitat beschäftigte die Gerichte bis in unsere Tage. Vieles von dem, was dem kranken Hirn eines Marquis des Sade entsprungen zu sein scheint, wird im Krieg legalisiert. Wer erinnert sich noch an die Diskussionen über die Bilder der Wehrmachtsausstellung? an das Massaker von My Lai? oder an den Folterskandal von Abu-Ghuraib?
Den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Passagierflugzeugs hat der Bundesgerichtshof untersagt; darf dann die Tötung afghanischer Zivilisten bei der Bombardierung gekaperter Tanklaster in Kauf genommen werden? Im Krieg gelten andere Gesetze? Spätestens jetzt müssten wir uns an das Filbinger-Wort erinnern: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." 1996 entrüsteten sich viele Leser und Nichtleser über das Buch von Daniel Goldhagen "Hitlers willige Vollstrecker". Es machte deutlich, dass für das Funktionieren der Todesmaschinerie auch viele, viele kleine Rädchen nötig waren.
Ich möchte wetten, dass auf den Speichern mancher mittelständischer Patrizierhäuser Chroniken vergilben, in denen die begeisterten Frontberichte der Lehrlinge gesammelt sind, geschmückt mit den typischen Zigaretten-Sammelbildchen jener Zeit, auf denen zum Beispiel martialische Stukas Bomben und Feuer spucken.
Die Suche nach Wahrheit sollte aber nicht nur dem Aufspüren von Schuldigen dienen, sondern der Verhütung des Wiederholbaren. Es wäre schlimm über einen jungen Günter Grass wegen seiner Zugehörigkeit zur SS zu urteilen; allenfalls könnte man bedauern, dass er die nachfolgende Generation nicht zeitiger, intensiver und aufgrund ganz persönlicher Erfahrung auf die Gründe für Irrwege hinwies.
Lieber als "Hitlers willige Vollstrecker" lesen wir natürlich "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk", der sich durch alle Widrigkeiten laviert oder Bohumil Hrabals, "Ich habe den englischen König bedient", ein Schelmenroman über den Opportunismus. Der Wahrheit dürften beide Bücher nicht nahekommen. Die ist eher in den "Wohlgesinnten" von Jonathan Littell zu finden. Dort erfahren wir auch, dass nicht nur die einfachen Schwejks zu Mördern verkommen können, auch zu klassischer Musik lässt es sich foltern und vergewaltigen.
In Rezensionen wurden die von Jonathan Littell vorgetragenen, pedantisch recherchierten Gräuel kritisiert. Sie sind in der Tat unfassbar, schwer zu lesen – und doch wahr. Und mindestens ein Satz sollte sich allen Lesern des Buches einprägen:
"Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig", erklärt Max Aue (der fiktive Erzähler der Wohlgesinnten) gleich zu Beginn seines Berichts. "Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können. Vielleicht mit weniger Eifer, dafür möglicherweise auch mit weniger Verzweiflung."
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Im Blog wurden folgende Bücher erwähnt:
Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten
Roman. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2008
BVT Berliner Taschenbuch Verlag, Bd. 628, € 18,00
Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker
Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocoust.
Goldmann Taschenbücher Bd. 15088, € 12,50
Bohumil Hrabal, Ich habe den englischen König bedient
Roman. Suhrkamp Taschenbücher Nr. 1754, € 9,00
Jaroslav Hasek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk
Roman. Aufbau Taschenbücher Bd. 6108. € 12,95
Als in der Nachkriegszeit das Papier knapp war und der Geldbeutel klamm, wurden die Taschenbücher erfunden. Zunächst erschienen bei Rowohlt großformatige Drucke auf billigem Papier: Rowohlts Rotations Romane (ro ro ro), aus denen sich die Taschenbücher entwickelten, die für 1,50 DM angeboten wurden und damit nur etwa 11 – 15 Prozent vom üblichen Ladenpreis des fest gebundenen Buchs kosteten. Sie boomten millionenfach. Zeitgleich wurden in neu gegründeten Buchgemeinschaften Titel zum Vorzugspreis angeboten, die dort nur noch etwa 60 % der Originalausgaben kosteten. Wem die Lektüre nicht genügte, der durfte sich auch an den goldgeprägten Buchrücken in der altdeutschen Wohnzimmerschrankwand erfreuen. Dem Buchhandel ging es gut. Bis das Fernsehen kam, die Buchkaufhäuser - und schließlich das Internet.
Lesefeinde
Erklärte man früher das Fernsehen zum Lesefeind Nr. 1, so versuchen heute die Verlage gegenüber dem Internet eine andere Strategie: Sie biedern sich dem Medium an. Sie eröffnen Internetportale, die sich mit Langeweile gegenseitig übertrumpfen, sie verschicken Newsletter mit überflüssigen Informationen und unsäglicher Werbung. Anstatt Netze mit interessierten Lesern zu knüpfen, stellen sie ihre Internetseiten selbstverliebten Bloggern und stammelnden Twittern zur Verfügung, und sie versuchen, den Markt für das E-Book zu erschließen. „Endlich papierfrei“ jubilierte kürzlich ein Verleger, der seine E-Books anpries und wenig später Antrag auf Kurzarbeitergeld stellte, weil der Umsatz einbrach.
Jetzt haben wir den Salat.
Überproduktion. Mittelmäßige Literatur in Überzahl. Viele überflüssige Bücher – und nur wenige Großbuchhändler und -verlage, die noch Reibach machen. Selbstverständlich hat man immer wieder nach realen Möglichkeiten aus der Krise gesucht, trotzdem hat es bis jetzt wenig geholfen. In den vergangenen 20 Jahren zeigte sich: Erscheinen weniger Bücher, sinkt auch der Umsatz, erscheinen mehr, ist Überproduktion die Folge. Wer soll die 140000 deutschsprachigen Bücher lesen, die allein dieses Jahr erschienen sind? Und das alles bei einer real abnehmenden Lesebereitschaft? 60 Euro gibt der durchschnittliche Leser im Jahr für Bücher aus. Was sollte ihn da reizen einen E-Book-Reader für 300 Euro zu kaufen?
Kreative Buchhändler? Wo?
Kräftig am Leser vorbei rollt die Werbung für das neue Medium E-Book. Zum Beweis zitiere ich hier einige Argumente der Thalia.de (kursiv) und meine Meinung dazu:
E-Books können Sie 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche kaufen. Sie sind weltweit verfügbar und stehen innerhalb nur weniger Minuten direkt zum Lesen bereit.
Langsam, langsam. Wer will denn alles jederzeit und sofort? Außerdem ist höchst fraglich, ob das von mir gewünschte Buch auch als E-Book lieferbar ist.
Die E-Book Lesegeräte und besonders der Sony Reader PRS-505 bieten Funktionen und Möglichkeiten, die ein gedrucktes Buch nicht bieten kann: Zum Beispiel können Sie die Schriftgröße Ihrem eigenem Lesekomfort entsprechend anpassen oder dem Text beliebig viele Lesezeichen hinzufügen. So wird das Buch zu einem interaktiven und offenen, modernen Medium.
Achtung, wenn ich anfange die Schriftgröße auf dem Reader meinen Augen anzupassen, sollte ich besser einen Optiker aufsuchen und meine Sehschärfe untersuchen lassen. Vielleicht brauche ich dringend eine neue Brille. Statt beliebig vieler Lesezeichen wäre mit lieber, wenn ich im E-Book eigene schriftliche Vermerke anbringen könnte.
Ihre eigene Bibliothek können Sie dank E-Books überall hin mitnehmen: Allein auf dem internen 92 Megabyte Speicher können circa 160 Bücher abgelegt werden. Die Kapazität der Reader lässt sich... erweitern – auf 16 Gigabyte Speicher passen sogar bis zu 13.000 Bücher.
Will ich das wirklich? Will ich überall bis zu 13.000 Bücher bei mir haben? Nein.
Der Reader gibt Ihnen die Möglichkeit, Ihre Lieblingsbücher auf eine neue, komfortable Weise zu genießen und sie immer dabei zu haben während Sie unterwegs sind.
Schön wär’s. Schauen wir mal, welche meiner Lieblingsbücher von Günter Grass, Ces Nooteboom, Milan Kundera überhaupt als E-Book erhältlich sind. Kein einziges!
Merkwürdig gestelzt klingt die Antwort von thalia.de auf die Frage nach dem Preis. Da heißt es:
„Der Preis der E-Books wird von den Verlagen festgelegt. Das Bestreben ist es, die E-Books in Absprache mit den Verlagen generell günstiger als das gedruckte Buch anzubieten. Für einen Großteil der Titel trifft dies bereits zu. Sie liegen für einen ansehnlichen Teil der Titel im Durchschnitt etwa 20 % unterhalb des Preises für das ‚normale’ Buch."
Der Preis für Bücher wird schon immer von den Verlagen festgelegt. Hat Thalia neuerdings Mitspracherecht bei der Preisgestaltung? Gibt’s da etwa Preisabsprachen mit den Verlagen? Herstellungs- und Vertriebskosten eines E-Books sind doch weitaus günstiger als beim herkömmlichen Buch; warum kosten dann nicht alle E-Books weniger als gebundene Bücher und warum liegen die Preise nur 20 Prozent unterhalb des Preises für das normale Buch?
Mein Tipp für Verlage
Von den jährlich 140000 neuen Büchern kann ich mir leider nur einen Bruchteil leisten und von dieser eingekauften Lektüre erscheint mir nachträglich ein Großteil relativ überflüssig. Ich will damit nicht sagen, dass die meisten meiner Bücher besser ungelesen geblieben wären, aber in meiner Bibliothek möchte ich sie nicht haben – und sie sollten auch nicht den Speicher meines E-Book-Readers blockieren. Mein Problem ist die Buchentsorgung. Irgendwie scheue ich mich, Bücher ganz einfach in die Mülltonne zu werfen und außerdem ärgere ich mich, wenn ich meinen Etat für Bücher nicht besser anlegen konnte. Die Lösung wäre, wenn ich zum Beispiel Novitäten für die Dauer von sagen wir 14 Tagen herunterladen (ausleihen) könnte. Nach Ablauf dieser Frist könnte sich die Datei selbst löschen und selbstverständlich wäre auch nichts einzuwenden gegen einen Kopierschutz. Für eine solche befristete Ausleihe würde ich dem Verlag pro Titel gern drei Euro bezahlen.
Möchte ich ein Buch nach dieser ersten Lektüre in meiner Bibliothek besitzen, möchte ich es ein weiteres mal lesen wollen, würde ich es in Buchform zum üblichen Ladenpreis kaufen. Diese Lösung würde mir helfen, den Verlagen ebenfalls und der Qualität allemal.
Hierbei müssen wir nicht von jenen Büchern reden, für die ein Angebot als E-Book überhaupt nicht in Frage kommt. Besonders schön gestaltete Bücher gehören dazu, Bücher, die sich durch besondere Ausstattung auszeichnen.
Wer denkt so wie ich? Prüfen Sie es, liebe Verlage. Wozu haben Sie ein Marketing? Seien Sie kreativ.
Vor drei Jahren fiel der damals knapp dreißigjährige Günter Grass durch ein Bändchen Lyrik und Kurzprosa auf, dessen Titel "Die Vorzüge der Windhühner" gute Laune verhieß und dessen Lektüre dieses Versprechen hielt, wenn auch auf leise unheimliche, nicht ganz geheure Art. Namentlich einige kurze Gedichte, in der Art absurder Sinnsprüche verrieten ein originelles Additionstalent, das seine beunruhigenden Wirkungen durch Summierung und planvolle Zusammenfügung von Unzusammengehörigem erzielte. Nun hat der Autor den Sprung zur großen Erzählung gewagt und der ist in seinem Fall nicht so überraschend wie es den Anschein hat. Die Verse von Grass wurzelten durchweg in konkreten Situationen. Wie diese jeweils durch einen Trick in Frage gestellt und entwirklicht wurden, wie sie aber gerade dadurch durch die kecke Umgruppierung der realen Elemente, eine Vielzahl oft erschreckender latenter Bedeutungen offenbarten – das war ein Vorgang, den man sich auch anders als im lyrischen Medium vorstellen konnte. Der Erzähler, als welcher der Autor nun mit dem vollen Gewicht von nicht weniger als 736 Seiten auftritt, kündigte sich bereits an.
Nihilismus pur
Tatsächlich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Gedichten wie dem "Mißlungenen Überfall" und der "Mückenplage" und dem vorliegenden Roman. In jedem Fall stimmen die Details – Grass ist wie viele seiner Generation ein Fanatiker des Details – doch die Anordnung des einzelnen macht das Ganze zur Fratze. Die Fratze aber, so spüren wir mit einigem Unbehagen, erhebt Anspruch darauf, das wahre Gesicht zu sein. Grass geht, was dies anlangt, in seinem Roman noch radikaler vor als in seiner Lyrik. Indem er die Welt aus der Sicht eines trommelschlagenden Kretins beschreibt, wählt er eine Perspektive, die von vornherein jede Verzerrung legitimiert. Ja, die Möglichkeiten lustvoller Deformation sind noch weiter gestuft und verfeinert; denn dieser quäkende Gnom, der mit magischer Stimmkraft jedes Glas zu brechen imstande ist (ausgenommen das von Kirchenfenstern!), ist ein freiwillig Zurückgebliebener, einer, der sich durch einen Willensakt vorsätzlich im Stande eines bettnässenden, schmuddligen Kindermund verzapfenden Dreijährigen hält. Wir haben es hier – und das ist von einer bravourösen Widerwärtigkeit – mit einer totalen Existenzkarikatur zu tun: mit einem nicht nur frohlockend auf sich genommenen, sondern vollbewusst herbeigeführten Kretinismus, mit einer wütenden Intelligenz, die sich unter schnarrendem Gelächter in einen Froschleib zurückzieht, jede Verantwortung von sich weisend, nur bereit zu schnuppern und zu schmatzen, zu keckern und sabbern, auf eine Kindertrommel zu schlagen und Schaufensterscheiben oder Einmachegläser zerscherben zu lassen. Die Rückkehr zur Nabelschnur als Programm eines totalen, höchst mit sich zufriedenen, höchst vergnügten Nihilismus!
Ein schauerlich entgleister Peter Pan
Auch dass der grässliche Brüller sich mit einundzwanzig Jahren überraschend entschließt, doch noch ein paar Zentimeter zu wachsen, und es unter Qual und Fieberschauern von 94 Zentimeter auf 1,23 Meter bringt – auch das ändert kaum etwa an dem nichtswürdigen Tatbestand. Im Gegenteil, es vollendet ihn. Was bisher noch unter dem Motto einer freilich wenig liebenswerten Kindlichkeit hingehen mochte, erweist sich nun endgültig als böser, willentlicher Affront gegen Natur und Menschenpflicht. Aus einem "anhaltend Dreijährigen" ist ein schauerlich entgleister Peter Pan geworden, der sich – missraten und fidel – in einer Freizone zwischen Kindheit und Erwachsensein aufhält. Trotzdem verwischt dieser späte, nicht ganz zulänglich motivierte Entschluss zu zusätzlichem Wachstum die Grundkonzeption ein wenig. Offenbar handelt es sich dabei um eine vorwiegend erzähltechnische Manipulation, mit welcher der Verfasser, seinen Helden aus der Monotonie der Säuglingsrolle befreien und ihm neue Spiel- und Jagdgründe erschließen wollte.
Eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit
Wie dem auch sei, man darf Günter Grass bescheinigen, dass ihm mit seinem Oskar Matzerath, der uns da – von der Wiege in einem Danziger Kolonialwarenladen bis zur wohlverdienten Zelle in einer Heil- und Pflegeanstalt – seine krause Biographie, versetzt mit Zeitgeschichte, ins Ohr trommeln darf, eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit gelungen ist. Der fanatische Säugling und Wechselbalg aus freien Stücke, der im Kleiderschrank oder unter der Tischdecke Beobachtungsposten bezieht, um als kindlicher Voyeur verächtlich und genießerhaft zugleich die Zoologie der Erwachsenen zu studieren, vereinigt sich mit dem besessenen Trommler zu einer gezielten Schöpfung, die dem Leser zu schaffen macht. Kleinbürgerliche Verkommenheit, der braune Marschtritt; der Infantilismus einer Epoche, die Umgang mit dem Äußersten pflegt, aber unfähig der bescheidensten Menschlichkeit ist – solche und andere Assoziationen stellen sich ein. Freilich, ohne auch nur einmal jene Höhe eines erhabenen Schreckens zu erreichen, wo das Geschehen, bei aller schändlichen Komik, ins Tragische umschlüge und damit sinnvoll würde.
Die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen
Sinnvoll, das hieße: wo es kathartische Wirkung erreichte. Doch die bleibt aus, die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen, sofern er überhaupt eines ist. Was Grass schildert und wie er es schildert, fällt nur zum Teil auf die Sache, zum andern Teil auf den Autor selbst zurück. Es kompromittiert nachhaltig nicht nur sie, sondern auch ihn – so stark und unverkennbar ist das Behagen des Erzählers an dem, was er verächtlich macht, so penetrant die artistische Genüsslichkeit, mit der er ins Detail eines unappetitliche l’art pour l’art steigt. Wozu der Pferdekopf mit Aalgewimmel, wozu der Notzuchtversuch an einer Holzfigur, wozu das Schlucken einer mit Urin versetzten Brühe, die Brausepulverorgien, das zuckende Narbenlabyrinth auf dem Rücken eines Hafenkellners? Weil es dem Autor ganz offenkundig Spaß macht, sein allezeit parates Formulierungstalent daran zu erproben – wobei er sinnigerweise mit besonderer Vorliebe bei dem Vorgang des Erbrechens und der detaillierten Beschreibung des dabei zutage Geförderten verweilt. Grass kann im Gegensatz zu Joyce – wenn dieser unangemessene Vergleich für einen Augenblick gestattet ist - nicht für sich in Anspruch nehmen, dass es ihm auf eine vollständige Bestandsaufnahme des Weltinventars angekommen sei, aus der er das Obszöne nicht wirklich habe ausklammern können. Er gibt keine Welttotale, sondern einen sehr subjektiven, sehr tendenziösen Ausschnitt – eine Spezialitätenschau. Es scheint, er braucht das Ekelhafte, um produktiv zu werden, ebenso wie er das fragwürdige Überlegenheitsgefühl des intellektuellen Zuchtmeisters braucht und genießt. Der Autor schlägt zu, und er trifft die richtigen Objekte, aber die Wollust des Peitschens und Treffens ist so offensichtlich, dass sie die Rechtmäßigkeit der Bestrafung in Frage stellt. Hier dominiert nicht der tragische Sinn, nicht jenes Grauen, aus dem die Erlösung kommt, sondern das unverhohlene Vergnügen daran, der Menschheit am Zeuge zu flicken. So hinterlässt das überfüllte Buch am Ende den Eindruck einer wahrhat grässlichen Leere. In seinem konsequent antihumanen Klima gibt es nur eines, woran man sich halten kann, den Selbsthass.
Keine Visitenkarte für eine neue Literatur
Damit kommt dieser Roman zweifellos einem versteckten Bedürfnis der Zeit entgegen: das Unverarbeitete der Epoche, das Übermaß an Schuld, an dem sie trägt, und die Anmaßung, mit der sie sich darüber hinwegzusetzen sucht, lassen den Menschen insgeheim nach Erniedrigung verlangen. In diesem Buch wird sie uns in überreichem Maß gegeben – aber so, dass den Gebeutelten doch nicht ganz das Lachen vergeht. Der Autor räumt ihnen großmütig das Recht ein, ihrer selbst spotten zu dürfen, und augenscheinlich sind sie dankbar dafür. Von daher erklärt sich – zu einem Teil – der sonderbare Erfolg des Buches. Der andere Teil heißt: geschickte Lancierung, ein nahezu vorfabrizierter Sieg. Die Gruppe 47 ließ es sich nicht nehmen, den Roman preiszukrönen, noch ehe er fertig war. Der Verlag bearbeitet die Blechtrommel der Propaganda mit beiden Fäusten und mit den Füßen dazu. Die Öffentlichkeit wird planmäßig eingeschüchtert, indem man ihr einen neuen Rabelais und Grimmelshausen verheißt. Ich würde sagen: Christian Reuter genügt. Schelmuffsky 1959. Auch das ist ja schon ganz hübsch, wenn es auch nicht gerade die Visitenkarte ist, die man sich für eine neue Literatur wünschen möchte.
GÜNTER BLÖCKER