November 2024 |
||||||
Mo |
Di |
Mi |
Do |
Fr |
Sa |
So |
1 |
2 |
3 |
||||
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
9 |
10 |
11 |
12 |
13 |
14 |
15 |
16 |
17 |
18 |
19 |
20 |
21 |
22 |
23 |
24 |
25 |
26 |
27 |
28 |
29 |
30 |
|
NEIN Ich misstraue allen Rezensenten, die innerhalb von vier Tagen eine angeblich fundierte Kritik über ein 700 Seiten starkes Buch abgeben, an dem der Autor über neun Jahre gearbeitet hat.
Jonathan Franzen, Freiheit. Roman. 736 Seiten, 24,95 €
JA Ich denke langsam und grüble über „moralisch" und „moralisierend". Wo liegt der Unterschied?
Jonathan Franzen, Freiheit „ist ein hochmoralisches, doch niemals moralisierendes Buch...“ Felicitas von Lovenberg (FAZ.NET)
JA Ich werde dieses Buch wahrscheinlich kaufen; aber frühestens in 3 Monaten; bis dahin werde ich Meinungen sammeln.
NEIN Ich zweifle an einer guten Übersetzung, wenn ein einzelner Übersetzer gar nicht so schnell arbeiten kann, wenn - nur um hysterisch schnell zu sein - zwei Übersetzer ans Werk gehen.
Jonathan Franzen, Freiheit. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld
??? Aus einem Interview im Deutschlandfunk:
Armbruster (Deutschlandfunk): „Franzen schreibt groß angelegte Familienromane... Auch "Freiheit" gehört wieder in dieses Genre. Ist das nicht eigentlich ein Format des 19. Jahrhunderts?"
Iris Radisch (Die Zeit): "Ja, das ist schon wahr. Nur: es hat die Familie ja nicht aufgehört zu existieren, und er begleitet ihre Krisen. Wenn es in den "Korrekturen" eher um das Auseinanderfallen, Auseinanderdriften der Familienstrukturen ging, ist dies ja wohl ein Roman, der Hoffnung geben will, der Wege zeigen will, der vielleicht sogar Therapien bieten will, wie die Familie wieder zusammenwachsen kann."
Bücher AbissZ: Familie, Einehe, Familie mit oder ohne Ehe, Patchworkfamilie, Paarfamilie, Homoehe, Alleinerziehende Eltern. Der Familienbegriff des 19. Jahrhunderts hat sich schon sehr verändert. Um welche „Familie" geht es wohl bei Franzen?
Wolfgang Schneider (Deutschlandradio Kultur) sagt es klarer: „Der "Familienroman" war schon in den "Buddenbrooks" ein Familienzerstörungsroman. Familie ist erst recht bei Franzen kein neobiedermeierliches Idyll, sondern ein Laboratorium emotionaler Komplexität. Hier sind die Menschen vertäut, hier glühen ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, hier erleiden sie ihre Enttäuschungen und Lebenslügen, hier werden die Fehler gemacht, die noch in der nächsten Generation nachwirken, hier laufen langwierige Wiedergutmachungsprojekte, hier durchkreuzen Söhne und Töchter die Lebensaufträge, die ihnen von den Eltern aufgehalst wurden, hier fällt der Apfel möglichst weit vom Stamm."
!!! Aus FAZ.Net–Gespräch mit dem Autor:
Jonathan Franzen: „Der Feind (des Lesens) ist nicht das Fernsehen, sondern das Internet, das jeden neuen Tag in eine Million bedeutungsloser Partikel zerbricht. Ich glaube, Schriftsteller müssen heute unnachgiebiger denn je versuchen, Erzählungen zu schaffen, welche die Menschen von dieser oberflächlichen Sofort-Befriedigung wegholen. Insofern konkurriere ich vielleicht doch, aber nicht, weil ich glaube, dass das Internet etwas besser kann, sondern im Gegenteil: weil ich denke, dass das Internet und die sozialen Netzwerke bösartige Drogen sind, die enormen gesellschaftlichen und psychologischen Schaden anrichten. Der Roman in seiner besten Form kann Menschen an die besseren, stilleren, tiefer in sich ruhenden Seiten ihres Selbst erinnern."
JA Jonathan Franzen hat recht! Und deshalb verabschiede ich mich mal aus meinem Blog.
Bücher AbissZ
Nichts gegen die schriftstellerischen Qualitäten eines Günter Grass, seinen Stil, seinen Witz, seine schöpferische Sprachgewalt. Aber Vorsicht, wenn er sich als Gewissen der Nation betrachtet, als Aufrüttler, als Wegweiser. Jüngstes Beispiel im Deutschlandfunk: Günter Grass im Gespräch mit Denis Scheck über „Grimms Wörter“ (das neueste Grass-Buch) in der Sendung Büchermarkt vom 20. August 2010.* Wir zitieren in Auszügen:
Denis Scheck:
„Der für mich mit eindrucksvollste Satz in GRIMMS WÖRTER lautet, ein Zitat von Ihnen selber: ‚Freiheit ist eine Hure, die jeder ficken darf, der zahlen kann.’ Wie meinen Sie das?"
Günter Grass:
„Ja, wir treiben Schindluder mit dem Wort Freiheit. Wenn wir uns das Grundgesetz angucken - und vor dem Gesetz ist jeder gleich - stimmt das nicht. Wer die Mittel hat, den Anwalt über mehrere Instanzen zu füttern und zu zahlen, ist in einer besseren Situation und kann das durchstehen, andere verhaken das gar nicht, weil ihnen die Puste ausgehen wird. Da ist die Freiheit schon mehr als relativiert und dafür gibt’s dann haufenweise Beispiele."
Die Freiheit eine Hure? Was für ein Macho-Bild! Irgendwas stimmt nicht an dem Vergleich. Vielleicht liegt’s daran, dass Grass selbst von Freiheit spricht, aber Gleichheit meint. Zurück zum Interview: Denis Scheck ist auf das Reizthema Katholische Kirche – Kindesmissbrauch fixiert und behauptet Dinge, die so nicht stattgefunden haben – aber Grass lässt sich einbinden.
Denis Scheck:
„Katholizismus. Sie schreiben (in „Grimms Wörter“) über einen katholischen Vikar der seine Nöte mit dem Zölibat hat und - das passt natürlich zur aktuellen Diskussion um Kindmissbrauch - sowohl Jungen und Mädchen befingert, befummelt. Wie haben Sie die katholische Kirche erlebt?"
Günter Grass:
„Na ja, zu erst einmal, solange der Glaube hielt, mit einer ungeheuren Angst vor Fegefeuer und Hölle. Der Beichtspiegel: Bist du unkeusch gewesen in Gedanken Worten und Werken – darüber musste ein Zehnjähriger nachdenken. Das sind Dinge die mich solange bedrückt haben, solange das Glaubensgerüst hielt. Aber mit 14 Jahren bröckelte das schon bei mir. Und vor allen Dingen, ich bin auch aushilfsweise als Messdiener tätig gewesen und wer die Gelegenheit hat, nicht nur vor dem Altar zu dienen, sondern auch hinter den Altar zu gucken und was so in der Sakristei läuft, das ist schon der 1. Schritt zum Ausscheiden aus dem Glaubensgefängnis."
Was zum Teufel hat der Aushilfsmessdiener Günter Grass denn nun wirklich in der Sakristei erlebt? Bei so viel dröhnender Banalität wünscht man ihm einen intellektuellen Kontakt mit der Kirche wie ihn Thomas Bernhard hatte (der sicher auch kein Kirchenfreund war). Vielleicht sollte sich Grass heute bessere Argumente bei Christoph Türcke** holen. Denis Scheck indessen ist noch immer auf den angeblichen Kindesmissbrauch in „Grimms Wörter" fixiert:
Denis Scheck:
„Wie erklären Sie sich, dass trotz so vieler hellwacher Intellektueller man über so viele Jahrzehnte in Deutschland die Augen verschlossen hat vor dem Kindesmissbruch, vor dem sexuellen Missbrauch in der Kirche?"
Günter Grass:
„Na ja das hängt damit zusammen, dass diejenigen, die davon betroffen sind - also was ich dort schildere ist eine harmlose Sache - das war an sich ein ganz netter Kerl dieser Vikar, aber der konnte die Hände nicht bei sich lassen. Weiter ging es auch nicht, immer dieses dauernde Streicheln und mal bei den Mädchen und bei den Jungs auch mal so hinter dem Hemdkragen; wir haben das eher als lästig und komisch empfunden, ich würd’ das nicht dramatisieren. Aber es ist bei den Kindern dann auch so gewesen, ich hab’s auch nicht meinen Eltern erzählt, es wurde nicht weitergetragen, das ist die 1. Stufe. Und dann natürlich dieses hierarchische Gebäude innerhalb der katholischen Kirche. Das wenn so was geschieht, wird das alles weggedrückt, Versetzung... Wie lange hat die katholische Kirche gebraucht um grauenhafte Irrtümer wie die Kreuzzüge, wie die Inquisition, zuzugeben, dass das ein Irrweg gewesen ist. Wie lange sind Bücher auf dem Index geblieben. Die kath. Kirche hat auf fatale Art und Weise zu ihrer eigenen Schädigung diesen langen Atem."
Na endlich beschreibt Günter Grass, was wir unter dem angeblichen Kindesmissbrauch in GRIMMS WÖRTER verstehen dürfen. Da wurde wohl auch von Denis Scheck (ganz wie im „Beichtspiegel" der 50er Jahre) zu „unkeusch" gedacht. Es geht hier nicht um sexuellen Kindesmissbrauch, es geht darum, dass alles zu unterbleiben hat, was die Würde verletzt oder von Kindern als lästig empfunden wird. Kinder sollten frühzeitig erzogen werden, ihre Meinung zu äußern, und die muss respektiert werden. Für Einsichten ist es selten zu spät. Dazu wünschen wir auch Herrn Grass einen langen Atem. Schließlich brauchte er bis 2006 um seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS von 1944 einzuräumen und blinde Flecken sind da immer noch vorhanden. Verdrängung? Verschweigen?
Denis Scheck:
„Was mich an diesem Kindesmissbrauchfall so interessiert ist: das ist ein typisches Beispiel für einen blinden Fleck in der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung ist: da sind wir so aufgeklärt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, haben eine freie Presse, haben intellektuelle Sonderzahl, die buchstäblich auf der Suche nach Stoff ist, nach ihrem J’accuse-Fall und dennoch kann es Jahrzehnte laufen, ohne dass irgendetwas an die Oberfläche tritt."
Die Antwort von Günter Grass ist akustisch sehr undeutlich. Es entsteht der Eindruck, dass er nicht so recht weiß, was er antworten soll. Es scheint, als habe er irgendwie den Faden verloren.
Günter Grass:
„Na ja, das ist natürlich auch der Nimbus... den... ich überlege ... also... in meinen Buch zu beschreiben das also mit den Anfängen der Wahlkämpfe 61 dann 65 – in der Zeit gab’s noch Hirtenbriefe zum Wahlkampf; das ist heute auch vorbei."
Eindeutige Parteiempfehlungen der Kirche gibt es heute nicht mehr. Aber auch die „Theologie der Befreiung" ist verschwunden. Ein Vorteil?, ein Nachteil? In jedem Verbot, in jeder unklaren Stellungnahme steckt auch die Angst vor der Reaktion des Kirchenvolks. Das wäre eine Diskussion wert: Wie politisch darf/soll Kirche sein?
Denis Scheck:
„Sind wir heute weiter?"
Günter Grass:
„Partiell, partiell weiter, und im sozialen Bereich gibt’s diesen Abbruch und Rückfall und einen Verschleiß der Substanz des Grundgesetzes, der Verfassung." Grass versucht im Interview jetzt wieder den Anschluss an sein Buch GRIMMS WÖRTER herzustellen und erinnert an das Wort EID. „...also mit dem Eid, Kehrseite, dieses an den Eid gebunden sein, führt natürlich – das hat meine Generation mit erfahren – zu diesem blinden Gehorsam."
Denis Scheck:
„Sie haben einen Eid auf Führer und Vaterland geschworen..."
Günter Grass:
Ja, ja, ja und Reichsführer der SS ... ohne zu begreifen, welche Folgen so etwas hat. Befreit hat mich davon die Kapitulation. Ich stelle das auch in Frage im Buch, inwieweit ein Eid auch etwas ist, was zur Fessel wird und was dazu beiträgt, dass man blind wird gegenüber herrschender Ungerechtigkeit. Also ich würde... heute hät ich nicht nur Hemmungen... ich würde..... Auf die Verfassung der Bundesrepublik einen Eid zu leisten, würd ich verweigern.
Denis Scheck:
„Warum?"
Günter Grass:
„Weil die Verfassung, das was sie soziale Verpflichtung nennt, nicht einhält, weil wir vor dem Gesetz nicht gleich sind und was mich dazu gebracht, auch im Konflikt mit der Sozialdemokratie, dass wir ein Kronjuwel unserer Verfassung den Schutz von Asylsuchenden rausgekippt haben aus der Verfassung und etwas was noch in den Anfängen in der Presse gelegentlich Empörung hervorgerufen hat – Abschiebung, Abschiebehaft – ist alltäglich geworden. Da werden Familien auseinandergerissen. ... in Absprache mit der katholischen Kirche. Wo finden Sie heute noch in den Zeitungen Berichte über die alltäglich stattfindende Abschiebung? Das sind auch so Verschwiegenheiten, die sich dann einschleichen. Das zählt als Nachricht nicht mehr, hat sich sozusagen verbraucht und dann beginnt das Schweigen."
Denis Scheck:
„Und die Aufgabe des Intellektuellen?"
Günter Grass:
„Die Wunde offenzuhalten."
Ist unser Grundgesetz nun schlecht verfasst oder wird es nicht immer befolgt? Darf man auf eine Verfassung schwören, deren Richtlinien missachtet werden? In diesem Punkt scheint Grass ähnlich radikal zu sein wie die Bibel:
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was Du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht,... Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen. (Mt. 5, 34 – 37)
_______
* Das vollständige Interview kann nachgehört werden unter www.dradio.de
** Christoph Türcke, Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments, 14,80 €
Piper ist ein altehrwürdiger Verlag. Und auch wieder nicht. 106 Jahre alt ist er geworden, hat immer wieder ums Überleben gekämpft und sich dann 1995 dem schwedischen Konzern Bonnier angeschlossen, einer Aktiengesellschaft. Wie läuft in einem Konzern eigentlich das Buchgeschäft? – ich weiß es nicht. Aber irgendwie hat man dabei negative Vorstellungen, denkt an Glaspaläste und Rendite und neuerdings – wie bei den Banken – an Scheingeschäfte, Leergeschäfte und an „Blasen“. Alles falsch? Wie werden bei Piper im Bonnier-Konzern, zu dem ein bunter deutscher Verlagsreigen gehört (arsEdition, Carlsen, Malik, Pendo, Piper, Thienemann, Ullstein Buchgruppe), Bücher gemacht? – keine Ahnung. Teilt man sich dort den Markt auf? Oder macht man sich Konkurrenz? Hängt die Veröffentlichung eines Buches von der Qualität oder von der vermuteten Auflage ab? Wie schnell wechseln die Manager? Gibt es längerfristige Strategien oder zählt hauptsächlich der kurzfristige Erfolg. Ein klein wenig verrät uns der Leitspruch des Verlags: Piper, Bücher, über die man spricht. Das kann man so und so verstehen. Aber denken wir positiv!
Wer macht Bücher bei Piper? Wer sind die Lektoren? Es gäbe eine Menge interessanter Fragen, die ein Newsletter beantworten könnte. Leider erfährt man dort nichts. Beginnen wir ganz vorn: Warum setzen die Piper-Leute auf die sterile Vertraulichkeit von Computer-Anreden? Der August-Newsletter beginnt z.B.:
Liebe/r Herr Torsten P...,
Anscheinend kann kein Computer checken, ob ich männlich oder weiblich bin.
endlich sind sie da - die neuen Geschichten des Berliner Strafverteidigers Ferdinand von Schirach, der letztes Jahr mit seinem Debüt »Verbrechen« Publikum und Presse begeistert hat.
Bis dato hielt sich mein Erwarten in Grenzen und wenn ich nicht weiß warum Publikum und Presse begeistert waren..., aber bitte.
»Schuld«, das neue Buch, ist sogar »noch besser als das hochgelobte Erstlingswerk« (FAZ).
Warum besser? Weil es die FAZ behauptet und weil dahinter sicher ein so kluger Kopf steckt, der sich jede Begründung sparen kann?
Auch sonst haben wir genau die richtige Lektüre für Ihren Sommerurlaub: Psychothriller der Extraklasse, literarische Hochkaräter, beste Unterhaltung und wichtige Sachbücher. Klicken Sie sich durchs Programm - es ist auch für Sie etwas dabei. Versprochen!
Die scheinen mich zu kennen. Aber woher? Na ja, ich bin doch Newsletter-Abonnent, also deshalb wohl leicht einzuordnen, leicht zu befriedigen. Lesen wir weiter:
Ferdinand von Schirach, Schuld. Stories, Die neuen Geschichten des Berliner Strafverteidigers. Neue Fälle aus der Praxis des Strafverteidigers von Schirach – die der Autor von Schirach in große Literatur verwandelt hat. Mit bohrender Intensität und in seiner unvergleichlichen lyrisch-knappen Sprache stellt er leise, aber bestimmt die Frage nach Gut und Böse, Schuld und Unschuld und nach der moralischen Verantwortung eines jeden Einzelnen von uns.
Bei solchem Werbetext kommt richtig „Hamlet" auf. Alles ist drin. Solche Strafverteidiger wünschen wir uns; die machen doch glatt Staatsanwalt und Richter überflüssig. Oder ließe es sich auch informativer sagen, um was es in dem Buch eigentlich geht? Weiter zum nächsten Titel:
Valentina Berger, Der Augenschneider. Thriller
Er schneidet ihnen bei lebendigem Leib die Augen heraus: jungen, schönen Frauen. Denn er braucht ihr Augenlicht...
Da wird mir ist ganz schlecht. Dass die Opfer gefoltert und „grausam verstümmelt werden", zudem „attraktiv, schlank und hochgewachsen" sind, will ich doch gar nicht wissen. Hält mich Piper für einen Sadisten? Soll ich weiterlesen?
Sándor Márai, Die Möwe. Roman
Zwei verlorene Seelen und die Macht des Schicksals. Die dramatische Begegnung zwischen einem Ministerialbeamten und einer geheimnisvollen jungen Frau: Warum sucht sie ihn gerade jetzt auf, da er eine schicksalhafte Entscheidung für sein Land getroffen hat? Und weshalb kommt sie ihm so seltsam vertraut vor? Mit diesem Roman gelang dem großen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai ein Meisterwerk über Sehnsucht und Vergänglichkeit.
O Gott. Vielleicht sollte ich mir stattdessen eine Rosamunde Pilcher-DVD reinziehen. Schluss jetzt mit diesen unsäglichen Werbesprüchen. Zugegeben, es ist Ferienzeit, Zeit für den leichten Schwachsinn. Hoffentlich wird’s dann im Herbst wieder besser! Und doch, fast hätte ich’s übersehen, angekündigt wird:
Denkanstöße 2011. Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft.
Die schönste Versuchung, seit es Bücher gibt verheißt der Werbetext. So viel süße Sprachsauce hat dieses Buch ganz sicher nicht verdient.
Alles Bluff?
Wir erhielten den Hinweis, dass Piper mit der Berliner Werbeagentur Lohmüller zusammenarbeitet. Auf deren sehenswerter Homepage schreibt die Chefin:
„Was ist gute Werbung? Ich glaube, das lässt sich nicht beantworten. Was eine Medaille verdient oder nicht, soll jeder selbst beurteilen... Und wenn es uns gelingt, Ihnen Werkzeuge mit an die Hand zu geben, die in der Öffentlichkeit für Verblüffung sorgen, hat sich die Frage nach guter oder schlechter Werbung auch erledigt. Ganz einfach, weil die Kampagne verkauft."
Alles klar.
Laut Amazon sind die Ebooks im Kommen. Angeblich verkauft der Branchenriese in den USA mehr digitale als gebundene Bücher. Im Juni dieses Jahres kamen auf 100 verkaufte Hardcover-Ausgaben 180 Ebooks. Leider ist diese Nachricht nur eine Firmeninformation von Amazon, also Werbung. Auf Nachfragen gibt’s von dort keine Antwort. Dabei wäre es interessant zu wissen, ob weniger Kunden mehr kaufen oder ob die steigende Anzahl der Buchverkäufe auch die Zahl der Leser erhöht hat. Dass überhaupt noch gelesen wird, ist jedenfalls erfreulich Das meint auch Jens Jessen. In der ZEIT schrieb er kürzlich:
"Hurra, wir lesen noch! Die Statistiken belegen keinen Niedergang der Schriftkultur. Und auch im Internet wird vor allem eines getan: gelesen..."
Im weiteren Verlauf des Beitrags folgen dann aber doch Einschränkungen und zum Schluss heißt es: "Kurzum, Wer über den Niedergang des Lesens spricht, muss genauer sagen, was er meint. Meint er tatsächlich die Kulturtechnik? Oder meint er das gute Buch? Meint er die Absatzsorgen einer Branche oder den Verfall von Bildung? Auch das ließe sich diskutieren – es wäre aber eine ganz andere Diskussion. Man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten oder, besser gesagt, nicht das Badewasser mit der Wanne verwechseln."
Trüber lasen sich vor knapp neun Monaten – ebenfalls in der ZEIT – die Gedanken zur Lesekultur. "Ein Land verlernt das Lesen", warnte Roman Pletter damals und er verwies darauf, dass Banker Lesekurse besuchen, Studenten abstrakte Texte nicht mehr verstünden und Schulbuchverlage klassische Texte zum besseren Verständnis kürzten.
Ganz neu ist das alles nicht. Schon zu John F. Kennedys Zeiten wurde die Technik des Schnelllesens propagiert, um die Masse der Informationen zu verkraften und wie Reader’s Digest gewichtige Werke der Weltliteratur ausdickt und herunter verdünnt, ist seit langem bekannt. Hoffen wir, dass es nicht Schule macht, wenn Mütter ihren Kindern statt Gutenachtgeschichten aus dem Duden vorlesen (zwecks Wissensvermittlung) und dass Blogger meinen, es hebe die Lesekultur, wenn sie das eigene Blog mehrmals täglich lesen.
Im Branchenmagazin Buchmarkt antwortet Helene Hegemann am
7. Februar auf Plagiatsvorwürfe in ihrem Roman Axolotl Roadkill.
Wir zitieren in Auszügen:
„Da sind diese Plagiatsvorwürfe - also wie das juristisch ist, weiß ich leider nicht so genau. Inhaltlich finde ich mein Verhalten und meine Arbeitsweise aber total legitim und mache mir keinen Vorwurf, was vielleicht daran liegt, dass ich aus einem Bereich komme, in dem man auch an das Schreiben von einem Roman eher regiemäßig drangeht, sich also überall bedient, wo man Inspiration findet. Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit... Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir (dieser Satz ist übrigens von Sophie Rois geklaut) – ich habe eine Sprache antrainiert gekriegt als Kind und trainiere mir jetzt immer noch Sachen und Versatzstücke an, aber mit einer größeren Stilsicherheit..."
Bücher AbissZ meint: Da hat sie doch völlig recht, die Helene Hegemann. Und das erinnert mich total an die eigene Schulzeit und den Vorwurf "abgeschrieben" zu haben. Was beweist es denn schon, wenn zwei Schüler in der Klassenarbeit die absolut gleichen Fehler machen? Dass sie abgeschrieben haben? Nein, dass sie vom gleichen Lehrer unterrichtet werden!
Es war eine überaus erfolgreiche konzertierte Aktion: Innerhalb von gut 14 Tagen priesen die Medien bis in die Provinz hinein das Erstlingsbuch des literarischen Shootingstars Helene Hegemann. Solches Echo hat selbst die "Atemschaukel" erst Monate nach Erscheinen gefunden und erst nachdem Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Ein Lob der Presseabteilung des Ullstein Verlags! Wie die es geschafft hat in nullkommanix die Kulturredaktionen in allen Himmelsrichtungen auf Axolotl Roadkill einzuschwören, wir wissen es nicht. Gewusst wie hätten wir schon gern ... Hier die Chronologie der Meinungsmache:
21. Januar
"Literarischer Kugelblitz"
titulierte Die Zeit ihre Besprechung. Da wir selbst noch nie einen Kugelblitz gesehen haben, ja nicht mal wissen, ob es ihn wirklich gibt, haben wir gleich weitergeblättert, zurück zu einer der frühesten Rezensionen im Spiegel :
18. Januar
"Das Wunderkind der Boheme..."
...lesen wir dort. Wunderkind? Unsereiner denkt da eher an Mozart, vielleicht auch noch an "Wir Wunderkinder" und Hugo Hartung. Die falsche Fährte. Die WAZ reißt uns wieder in die Gegenwart:
20. Januar
"17-Jährige schreibt über Drogen, Sex und Verwahrlosung"
Wem das noch nicht genügt, dem sagt es die FAZ drei Tage später noch deutlicher:
23. Januar
"... Man vertreibt sich so die Zeit, sieht Dokudramen über belgische Pinguinfetischisten und Vergewaltigungen von Achtjährigen, liest aufgeklärte Belletristik über pakistanische Psychoanalytiker und die gesammelten Klassiker der Poptheorie, schläft mit taxifahrenden Schauspielern und der besten Freundin, fuchtelt kurz mit der geklauten Halbautomatikpistole, kippt auch den achten Wodka Tonic, streitet noch etwas über Foucault, den Feminismus und die Furunkel am Hintern von Karl Marx und verschwindet dann hinter der Stahltür einer Bar oder unter zerkoksten Medienleuten auf vierhundert Quadratmetern Parkettboden irgendwo in Berlin..."
Die Headline der Focus-Besprechung erinnert an Lieder von Peter Maffay? oder Udo Jürgens? – auf jeden Fall mitleidig. Wir lesen:
25. Januar
"Sie ist erst 17
Die erste Auflage ist schon weg, berichtet der Ullstein Verlag, ohne Zahlen zu nennen. Im Buchhandel wird es eine vergleichbare Leserschaft ansprechen wie die Bücher von Christian Kracht ("Faserland") oder Charlotte Roche ("Feuchtgebiete"). Die Literaturkritik kann das Werk als Parforce-Ritt durch ein Teenagerleben im Berlin der nuller Jahre feiern."
Wunderkind oder Fräuleinwunder? Was hat der Literaturbetrieb für Attribute und passen die? Darauf antwortete der Literaturredakteur Florian Illies im Deutschlandfunk:
"... man kann sich einfach freuen, dass offenbar Qualität spürbar ist. Es ist ein Buch nicht nur mit einem fast unaussprechlichen Titel, diesem "Axolotl Roadkill", sondern auch ein sehr, sehr schweres, sperriges Buch, und zugleich springt einen spätestens ab der zweiten Zeile an, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Und ich glaube, dieses Moment, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen Werk einer tatsächlichen außergewöhnlichen Literatur zu tun hat, der ist offenbar all den Kollegen in den verschiedensten Redaktionen ganz ähnlich gegangen. Also ich empfinde das gerade jetzt als einen Gegenteil von Hype, sondern ein Beweis für die Wachheit der Literaturkritik, dass sie trotz all dieser naheliegenden Kategorisierungen es trotzdem wagt, hier mit solch großen Trompeten dieses Buch zu preisen.
Ganz schön brutal befindet die taz:
27. Januar
"Souverän in die Fresse gefeuert
Doch dann öffnet sich zwischen Kotz- und Sperma-Pfützen eine saubere Prosafläche, und man stellt fest: Das Buch ist wirklich gut. Spätestens, als die in einem Drei-Geschwister-Haushalt ohne Eltern aufwachsende Mifti versucht, im Supermarkt ein Huhn zu kaufen, und dabei einer Zufallsbekanntschaft eine Analyse ihrer dysfunktionalen Intellektuellenfamilie vor die Füße kotzt, verschwinden alle Etiketten. Der Text steht für sich selbst."
Und die Süddeutsche Zeitung klagt:
29. Januar
"Sehr jung, sehr hardcore. Warum setzt junge Literatur fast immer auf Exzess?" Vielleicht ist es so wie die Badische Zeitung in Freiburg/Br. (dem Geburtsort der Helene Hegemann) schreibt:
30. Januar
"Ein Leben im Horrorfilm
Überall strecken einem Monster und Zombies ihre grinsenden Grimassen hin, watet man durch Lachen von Blut und Kotze und Sperma, wird man brutal vergewaltigt und einem die Haut vom Rücken abgezogen."
Soll man sich vor solchen Horrorfilmen gruseln, schaudern oder ekeln? Eher schaudern, könnte man der Frankfurter Rundschau entnehmen. Ihr Beitrag:
2. Februar
"Ein Fall finsterster Romantik
Das Aufregende an neuen, guten Büchern ist, dass man die Gegenwart mit einem Mal deutlicher und intensiver wahrzunehmen meint. Es zeigt sich ein Ton oder eine Facette, die man vorher einfach nicht gespürt hatte. Sie werden dann im besten Fall Teil des eigenen Lebens. Am stärksten ist das so bei guten Debüts. Und schon lange gab es keinen Erstling mehr, wo dieser Effekt stärker war..."
Irgendwie ärgert uns, dass wir als Newsletter-Abonnent des Ullstein Verlags noch immer keine Informationen über Helene Hegemann und ihren Roman erhalten haben. Erst heute ist es soweit. Jetzt präsentiert der Ullstein-Newsletter auch Pressestimmen mit dem Hinweis, dass "das noch neue Jahr bereits sein erstes literarisches Highlight erlebt."
Die Antwort auf das, was wir schon immer wissen wollten aber nicht zu fragen wagten, erfahren wir im Südkurier, Konstanz:
5. Februar
"Das Skript des eigenen Lebens
... Ausgehen ist wichtig, dabei sein, Drogen probieren. Sie liebt eine Fotografin, ist aber auch am anderen Geschlecht interessiert, an seiner Andersartigkeit. Sie entscheidet sich spontan, sich von einem Taxifahrer ihre Unschuld nehmen zu lassen, um zu spüren, wie das Penetriertwerden sich anfühlt. Anonymer Sex ist doppelt geil."
8. Februar
Amazon.de hat bis dato 14 Kundenrezensionen gesammelt, die für Axolotl Roadkill aber nur insgesamt 2,5 Sterne (von 5 möglichen) verteilen. Zum gleichen Zeitpunkt findet man bei Weltbild.de erst einen einzigen Kundenkommentar, der das Buch allerdings in höchsten Tönen preist und dafür 5 Sterne (Note "ausgezeichnet") verteilt: "... Weil dieses Buch dermaßen authentisch "rüberkommt", wird man selbst als gestandene Sozialarbeiterin zum völlig hilflosen Helfer und bricht vor Mitgefühl immer wieder in Tränen aus..." Ach ja, sie ist erst 17..., schluchz.
Der Sortimentsbuchhandel hat noch keine eigene Meinung. Auf den Homepages der Buchhandlungen findet man außer dem Waschzetteltext des Verlags nur abgekupferte Rezensionen.
8. Februar
"Axolotl Roadkill" erreicht unter den Spiegel-Bestsellern den 17. Platz. Und dann der Hammer im Spiegel:
"Literaturwunderkind schrieb bei Blogger ab
Jetzt kommt heraus: Helene Hegemann hat Teile ihres erfolgreichen Romandebüts "Axolotl Roadkill" abgeschrieben. Sie gibt es zu - und entschuldigt sich bei einem Berliner Blogger."
11. Februar
"Wie mich das alles ankotzt" – Die Medien-Hype um die 17jährige Schriftstellerin Helene Hegemann
Zu diesem Thema diskutierten in SWR2 Forum:
Georg Diez, Feuilletonist, Berlin
Andrea Hünniger, Jungautorin und Reporterin, Zürich
Iris Radisch, Literaturkritikerin, "Die Zeit", Hamburg
Moderation: Michael Köhler
Iris Radisch zitierte folgende Passage aus "Axolotl Roadkill":
"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz."
Michael Köhler fragte: Ist das gute Literatur, Frau Radisch?
Iris Radisch antwortete:
"Das ist total interessante Literatur, weil die so unglaublich beweglich ist und weil sie eben von so Versatzstücken, wie ich sie eben vorgelesen habe, wieder zu ganz neuen Sachen kommt, weil man wirklich bei jeden Satz nicht weiß wie die Straße weitergeht und welche Wendung sie eigentlich nimmt und das ist natürlich das, was ich mir von Literatur wünsche, dass sie total unerwartbar ist und was ich sonst so selten in der deutschen Literatur im Augenblick finde."
Ob Frau Radisch auch über die Antwort ihrer fast 17jährigen Tochter nachdenkt? Die sagte nach Lektüre von "Axolotl" auf die Frage ihrer Mutter:
"Weißt du, Mama, die Tante ist mir viel zu kaputt."
Winterschlaf
Im Januar liegt der Buchhandel noch im Winterschlaf, verdaut das Weihnachtsgeschäft oder macht Inventur. Sollen die Kunden doch erstmal ihre Weihnachtsgeschenke lesen. Immerhin rackert sich Dirk Moldenbauer im Branchenmagazin Buchmarkt mit neuen Hinweisen auf ein goldenes Zeitalter im Web ab. Von eingeübten Werbemechanismen sollten sich die Verlage verabschieden, empfiehlt er, das Social-Media-Marketing nutzen, in Communities neue Kommunikationsräume schaffen. Viel Glück! Vielleicht wirkt sich das ja auch positiv auf die meist faden Homepages und Newsletter der Verlage und Buchhandlungen aus.
Bestsellerliste
Per 25. Januar habe ich dort 28 Titel gefunden. Dass davon ein Drittel aus Verlagen von Random House stammt, nährt mein Unbehagen am Zustandekommen dieser Liste. Trotzdem die Frage: Habe ich etwas verpasst?
Ein Blick auf die ersten zehn Titel genügt. Nichts Neues dabei, womit ich nicht behaupten will, dass das Alte schlecht sei. Aber diese pubertären Vampirgeschichten (P.C. Cast, Stephenie Meyer), nein ich will sie nicht mehr. Auch der breitenwirksame Humor des Herrn von Hirschhausen bringt mich nicht wirklich zum Lachen. Stieg Larsson? Spannend ist ja die Auseinandersetzung der Familie um sein nicht vorhandenes Testament. Spannend auch seine Krimis, Sex – na schön, aber so viel brutale Gewalt? Nein, danke.
Ob mich die heitere Seelenkunde des rheinisch-frohsinnigen Manfred Lütz nachdenklicher macht? Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Wohl wahr. Trotzdem geh ich lieber noch ein Stück weiter zurück in die Vergangenheit und greif nach den Büchern von Oliver Sacks. Vielleicht sollte man von ihm mal wieder lesen: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Das ist nicht heiter und doch zum Schmunzeln, sehr informativ – eine Reise in eine uns unbekannte Welt.
Thomas Wiczorek: Die verblödete Republik. Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen. Haben wir das nicht schon immer gewusst? Aber letzt Endes sind wir auch selber schuld. Dazu passt der heiß diskutierte, im Januar erfolgreich abgeschlossene Umzug Suhrkamps von Frankfurt nach Berlin. Über diesen Umzug habe man mehr gestritten als über den der Bundesregierung von Bonn nach Berlin, sagte die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz. Größenwahnsinnig oder will sie uns verblöden?
Würde man anhand der 10 Titel aus der Bestsellerliste einen LOGISCHES DENKEN TEST machen und fragen: Welcher Titel passt am wenigsten in die Auswahl?, könnte man auf Margot Käßmann tippen. In der Mitte des Lebens heißt ihr Buch, für Frauen geschrieben, für Männer erlaubt. Das Buch einer Bischöfin. Ein "frommes" Buch ein Bestseller? Das macht neugierig.
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen?
Und dann erinnern wir uns an die Weihnachtspredigt Margot Käßmanns, weshalb sie in die Kritik geraten war. Blauäugigkeit wurde ihr in den Medien vorgeworfen. Zu Recht oder zu Unrecht? Vom Verteidigungsminister wurde sie zum Vieraugengespräch geladen. Wir zitieren die beanstandeten Passagen ihrer Predigt (Quelle: www.ekd.de):
"... Aber leider ist nicht alles gut. Das ist uns in gesellschaftlichen Fragen in diesem Jahr besonders bewusst. Erinnern wir uns an den Klimagipfel in Kopenhagen - das kann nicht schöngeredet werden: Die Verhandlungen sind gescheitert an mangelndem Mut, an mangelnder Entschlossenheit und am Egoismus vieler. Das ist nicht nur blamabel, sondern dramatisch. Denn nur durch gemeinsames Handeln aller Staaten können wir den Planeten Erde bewahren für nachwachsende Generationen. Nichts ist gut in Sachen Klima, wenn weiter die Gesinnung vorherrscht: Nach uns die Sintflut!
Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Wir brauchen Menschen, die von der Botschaft der Engel her ein mutiges Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von einer anderen Gesellschaft zu reden und mich für sie einzusetzen. Ja, das ist für mich die weihnachtliche Botschaft: Mut zum Frieden gegen alle vorfindlichen Verhältnisse. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir heute Morgen etwas zynisch, ich meinte wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen..."
Ganz schön mutig die Frau Käßmann! Und natürlich nichts für Realos, für die christliche Botschaften nur utopisch bleiben. Da sei an Oscar Wilde erinnert: Fortschritt ist eine Verwirklichung von Utopien. Und anders als Helmut Schmidt meinen wir: Wer keine Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
________________________
Im Blog erwähnte Bücher
10 Titel (von insgesamt 28) aus der Spiegel-Bestsellerliste vom 25. Januar 2010:
1. P.C. Cast, Gezeichnet. House of Night 1. 16,95 €, Fischer
2. Eckart von Hirschhausen, Glück kommt selten allein. 18,90 €, Rowohlt
3. Stieg Larsson, Verdammnis. 9,95 €, Heyne
4. Eckart von Hirschhausen, Die Leber wächst mit ihren Aufgaben. Kurioses aus der Medizin. 9,95 €, Rowohlt
5. Herta Müller, Atemschaukel. 19,90 €, Hanser
6. Margot Käßmann, In der Mitte des Lebens. 16,95 €, Herder
7. Stieg Larsson, Vergebung. 9,95 €, Heyne
8. Thomas Wiczorek, Die verblödete Republik. Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen. 8,95 € Droemer/Knaur
9. Stephenie Meyer, Bis(s) zum Ende der Nacht. 24,90 €, Carlsen
10. Manfred Lütz, Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen – Eine heitere Seelenkunde. 17,95 € Gütersloher Verlagshaus
Hinweis auf die Bücher von Oliver Sacks, darunter:
Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.
9,95 €, Rowohlt Tb
... so bloggten wir Ende August, dass die Möglichkeiten des Internets von den Verlagen und Buchhandlungen so wenig oder hauptsächlich nur von ihren Werbetextern und Webdesignern genutzt werden. Alles Wissen über eine gute Öffentlichkeitsarbeit scheint verloren gegangen. Die technischen Möglichkeiten, die eine schnelle und fundierte Information aus erster Hand ermöglichen, der direkte Kontakt mit den Kunden, von all dem ist wenig zu sehen oder in Langeweile erstarrt. Werbespot reiht sich an Werbespot. Der 2008 verstorbene Joseph Weizenbaum hat es auf den Punkt gebracht: "Die Computerisierung des Alltags bringt am Ende nicht Kreativität, sondern die große Gleichförmigkeit".*1
Mehr Information und mehr Ehrlichkeit im Angebot
Das waren zwei unserer Forderungen. Zumindest die Händler sollten ihren Kunden alle lieferbaren Ausgaben eines Titels nennen. Als Kunde interessiert mich, ob mein Wunschtitel neben der gebundenen Ausgabe bereits als Taschenbuch existiert oder als Hörbuch oder als E-Book. Interessieren würde mich in welchem Zusammenhang das vorgestellte Buch mit den Richtlinien seines Verlegers, mit anderen (konkurrierenden Titeln) mit aktuellen Gesellschaftsthemen und mit vorgeprägten Meinungen steht. *2
Woher nehmen die Kritiker ihre Kriterien?...
... fragten wir und wissen auch heute keine Antwort. Um die Bedeutung einer Rezension - letztlich einer Meinung – einschätzen zu können, müsste man auch mehr über den Rezensenten wissen, über sein Vorwissen, seine Interessen und seinen Anspruch, nur dann lässt sich seine Aussage einordnen. Man wird den Verdacht nicht los, dass in den Marketingabteilungen der Verlage eifrig Leserbriefe produziert werden, die zur Ankurbelung des Verkaufs Bücher über den grünen Klee loben. Von Herzen kommen solche Rezensionen nicht und seriös ist das auf keinen Fall. *3
Die Verwirrung des Daniel Kehlmann *4
Wie kommt es, dass vieles was im finstren Mittelalter gang und gäbe war, heute als überwunden gilt und dennoch in unseren Köpfen sitzt und jederzeit ausbrechen kann? Daniel Kehlmann pries den (schon wieder vergessenen?) Film Lars von Triers ANTICHRIST und verstieg sich in der ZEIT zu der Frage „Was, wenn die Hexenverbrennungen berechtigt waren? Wenn es den Teufel gibt und wenn böse Frauen existieren, die mit ihm im Bunde sind?“ Wir antworteten darauf mit Die Verwirrung des Daniel Kehlmann und in einem Leserbrief der ZEIT stand: „Das wäre eine glänzende Rechtfertigung der massenhaften Hexenverfolgungen durch die christlichen Kirchen und eine Rehabilitation erster Klasse all der Inquisitoren, Verleumder, Folterknechte, Henker, deren Motive man bislang in kollektivem Wahn, Paranoia, Sexualneurosen und Sadismus gesehen hat. Diese sich so naiv gebärdende und doch so abgefeimte Frage ließe sich, konsequent weitergedacht, für all jene Gruppen von Menschen stellen, die Verfolgung und Massenmord anheimgefallen sind: "Was, wenn sie letztlich zu Recht vernichtet wurden? Weil..." - nun, die Gründe mag Herr Kehlmann sich bei den Mördern selbst abholen." *5
Rückkehr zur Nabelschnur *6
Den 80. von Günter Grass feierten wir mit der ersten Rezension der „Blechtrommel“ in der FAZ. Der große Günter Blöcker verfasste sie 1960. Ein grandioser Verriss. Günter Grass zollt dieser Rezension durchaus Respekt, „weil der Mann das Buch gelesen hat (etwas, das Grass bei heutigen Kritikern oft vermisst).
Wortgeblubber *7
Und wenn es die Kritiker doch gelesen haben und anschließend ihre Rezension schreiben, wer garantiert uns Lesern, dass wir wirklich etwas über das Buch erfahren und nicht nur – wie in einem Beispiel dokumentiert – mit Wortgeblubber Zeit verschwenden?
Buchmesse *8
Insel im Wortgeblubber war wie jedes Jahr die Buchmesse, auf der diesmal China das Gastland war. Als die Stände wieder abgebaut und alle Papierschnippsel weggefegt waren, fühlten wir uns an Ror Wolf (Hans Waldmanns Abenteuer) erinnert:
ist das wirklich alles schon gewesen?
fragt die witwe gähnend den chinesen,...
Alles ist verschwommen und verschmiert.
Aber sonst ist nicht sehr viel passiert.
Jubel, Trubel, Nobelpreis *9
Die Überraschung war groß als Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt. Ihr jüngstes Werk – „Atemschaukel“ – bei Hanser erschienen, war bis zu dem Zeitpunkt von der Kritik ziemlich unbeachtet geblieben. Mittlerweile hat sich das geändert und aus manchen Verächtern ihrer ästhetisierenden Beschreibung von Gräueln wurden Bewunderer. Wir wünschten und wünschen Herta Müller eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrem Werk.
E-Books
Mehrere male beschäftigten wir uns mit dem E-Book. Während anfangs noch mit einem "Endlich papierfrei" bejubelt, machte die Euphorie schnell einer nüchternen Enttäuschung Platz. Die Käufer hielten sich zurück. Die Vorteile des E-Books lassen zu wünschen übrig. Richtig spannend könnte es dann werden, vermuten wir, wenn Autoren bei der Selbstvermarktung auf das E-Book zurückkommen. *10
Mein Tipp für Verlage
Vorteilhaft wären die E-Books, wenn sie wirklich eine preisliche Alternative böten. Das ist nicht der Fall, und was einem die Verlage an Vorteilen aufschwatzen wollen, ist einfach lächerlich. Von den jährlich 140000 neuen Büchern kann ich mir leider nur einen Bruchteil leisten und von dieser eingekauften Lektüre erscheint mir nachträglich ein Großteil relativ überflüssig. Mein Problem ist die Buchentsorgung. Irgendwie scheue ich mich, Bücher ganz einfach in die Mülltonne zu werfen und außerdem ärgere ich mich, wenn ich meinen Etat für Bücher nicht besser anlegen konnte. Die Lösung wäre, wenn ich zum Beispiel Novitäten für die Dauer von sagen wir 14 Tagen herunterladen (ausleihen) könnte. Nach Ablauf dieser Frist könnte sich die Datei selbst löschen und selbstverständlich wäre auch nichts einzuwenden gegen einen Kopierschutz. Für eine solche befristete Ausleihe würde ich dem Verlag pro Titel gern drei Euro bezahlen. *11
Wer hätte das gedacht?
Der Religionsmonitor *12 der Bertelsmannstiftung prüft seit geraumer Zeit die Religiosität der Menschen. Und was ist das Ergebnis? Danach sind wir alle mehr oder weniger religiös. Ob das allerdings einen frommen Bücherboom zur Folge hat, scheint fraglich; denn um religiös zu sein muss man nicht an Gott oder Teufel oder Engel glauben. Es genügt schon so zu reagieren wie der Schauspieler Ewan McGregor (Darsteller eines Priesters im Film Illuminati). Er antwortete im Interview auf die Frage "Besitzt etwas für Sie religiösen Wert?" schlicht und einfach: "Motorradfahren".
Wettstreit der Religionen
Dass Religionen die Gesellschaft prägen steht außer Frage. In Berlin tobte eine Art Kulturkampf um die Frage Ethik oder Religion. *13 Wer von beiden sollte an Schulen das Vorrecht haben Pflichtfach zu sein? Die streitbare Ayaan Hirsi Ali und der nicht weniger streitbare Tariq Ramadan kriegten sich in die Haare. Forderte die bekannte Frauenrechtlerin wegen schreiender Ungerechtigkeiten eine Entislamisierung der Muslime kontert der andere, dass nur Menschen, die ihre kulturellen, religiösen und intellektuellen Ghettos verlassen, einen Kampf der Kulturen verhindern können. *14
Schade lieber Börsenverein
Solche Menschen waren allerdings in der Schweiz in der Minderheit als dort über den Bau von Minaretten abgestimmt wurde. Vergessen war der alte Lessing und der noch ältere Ramon Lull. Auch Buchhandel und Börsenverein haben das Gedächtnis eines Siebs. Oder ist es Absicht, dass nicht mehr an Annemarie Schimmel erinnert wird, die 1995 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wurde? Eine Anerkennung für ihr Versöhnungswerk mit dem Islam. Die Wellen schlugen hoch damals und es gab auch viel Ablehnung. Es lohnt sich auch heute noch die Laudatio vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zu lesen und natürlich auch die Dankesrede von Annemarie Schimmel.
Alles im Internet zu finden. Schade, lieber Börsenverein, dass Sie nicht darauf aufmerksam machen. Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels sollte doch mehr wert sein als das Preisgeld!
_______________________________
* 1 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchhandel & Internet, 1. 26.08.2009
* 2 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchhandel & Internet, 3. 27.08.2009
* 3 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Blödsinnig. 29.09.2009
* 4 Zur Diskussion: Die Verwirrung des Daniel Kehlmann. 0 4.09.2009
* 5 Aufgelesen: Abgefeimte Frage. 17.09.2009
* 6 Zur Diskussion: Rückkehr zur Nabelschnur. 01.11.2009
* 7 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Wortgeblubber. 02.10.2009
* 8 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchmesse 2009. War’s das? 20.10.2009
* 9 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Jubel, Trubel, Nobelpreis. 08.10.2009
*10 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: bye bye e-book. 20.09.2009
*11 Zur Diskussion: Mein Tipp für Verlage. 28.11.09
*12 Zur Diskussion: Religionsmonitor. 18.10.09
*13 Zur Diskussion: Buch und Kirche. 14.12.09
*14 Zur Diskussion: Wettstreit der Religionen? 01.09.09