Sonntag, 18. April 2010
Von Liebe keine Spur


Was ist denn eigentlich los mit den Deutschen? Sie spotten über veraltete bürgerliche Gesetze, plädieren für Unnachgiebigkeit gegenüber kirchlichen Sündern, lächeln milde über abgeschaffte Kuppelei- und Kranzgeldparagrafen und haben von der ersten "Angebeteten" oder geschiedenen Ex noch immer so etwas wie ein Andachtsbildchen in Besitz. Abgekommen ist ihnen allerdings häufig ein Glaubensbekenntnis nebst einigen Geboten und auch mit dem Grundgesetz können sie nicht, wie es mal ein Innenminister (Höcherl) formulierte, "den ganzen Tag unterm Arm herumlaufen". Die meisten Tabus sind gefallen. Zwölfjährige werden übers Kamasutra in Bravo informiert, Lolita ist Geschichte und Summerhill war ja nur Provokation. Aber Pädophile, die sind des Teufels. Und in der Erziehung? Da müssen Grenzen gesteckt werden, sagt Bernhard Hueb (ehemals Leiter des Elite-Internats Salem) und lobt vehement die Disziplin, während die Weizsäcker-Tochter Beatrice bekennt: "Liebe, das ist ein klassisches Wort, das in unserer Familie nicht vorkommt." Und dann die Literatur. Vergewaltigungen von Kindern, Drogen? "Das ist total interessante Literatur", wie es kürzlich eine prominente Literaturkritikerin (Iris Radish) formulierte. Über die Geschichte und den Verfolgungswahnsinn gegen die "namenlose Liebe" (Schwule) findet man mindestens ein Blog (dort ist allerdings von Liebe keine Spur), und auch Pornographie wird – warum denn nicht? - lustvoll genossen. Wenn hin und wieder ein Schüler durchknallt und Amok läuft, verkünden neue Waffengesetze strengere Sicherheitsmaßnahmen. Und wie war das noch mal mit der spätrömischen Dekadenz? Ach wäre doch unser Außenminister im Innern geblieben und hätte aus dem gegebenen Anlass besser Das kalte Herz (Wilhelm Hauff) zitiert. Altkanzler Kohl jammert, dass wir uns daran gewöhnt haben auf einem sehr hohen Niveau zu jammern und den meisten Bloggern wird vorgeworfen Motzblogger (sic!) zu sein. Schämen ist out, aber als neues deutsches Wort wurde fremdschämen vom Duden aufgenommen. Und demütig geworden sind nicht nur die Frommen, sondern auch immer mehr Politiker (wenn’s stimmt). Angela Merkel moderiert.

Was noch nicht ausprobiert wurde wäre ein neuer Deutschtest für alle - also nicht nur für Ausländer, die Einbürgerung wünschen. Nein, nicht nach der Anzahl der Bundesländer müsste gefragt werden, nicht welche Strophe der Nationalhymne gesungen wird oder ähnliches. 10 Gedichte sollten abgefragt werden mit dem Ziel Empathie zu wecken, unethisches Verhalten zu verhindern, Kritik zu fördern und Mut zur Meinungsäußerung. Selbstverständlich sollte der Test auch bei Alkoholkontrollen eingesetzt werden, statt der albernen Röhrchenpusterei. Wer alle 10 Gedichte aufsagen kann, wird nicht weiter auf Promille überprüft. Das sollte doch genügend Anreiz sein bei einem durchschnittlichen Jahresverbrauch von fast 10 Litern reinen Alkohols pro Bundesbürger. Über den Kanon müsste man sich noch einigen. Der Vorschlag fürs erste Gedicht steht:

Wir werden uns wiederfinden im See,
du als Wasser,
ich als Lotusblume.
Du wirst mich tragen,
ich werde dich trinken.
Wir werden uns lieben vor aller Augen.
Sogar die Sterne werden sich wundern:
hier haben sich zwei wiedergefunden in ihrem Traum
der sie erwählte.

(Rose Ausländer 1901 - 1988)