Sind wir nicht alle ein bisschen demjanjuk?

Manchmal fällt es schwer sich zu erinnern. Erinnern wir uns an den 30.11.2009: Im Rollstuhl ein sabbernder 89jähriger, über dessen schrecklicher Vergangenheit zu Gericht gesessen wird: John Demjanjuk. Beihilfe zum Mord an 27900 Juden wird ihm vorgeworfen. Demjanjuk, der Ukrainer und Sowjetsoldat, der Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor. Demjanjuk, der 1993 nach fünfjähriger Haft aus der israelischen Todeszelle freikam, aber auch weiterhin in den USA wegen seiner vermuteten Verbrechen verfolgt wurde.

In manchen Zeitungen war zu lesen, dass der Sinn von NS-Prozessen im Aussprechen der Wahrheit liegt, nicht im Urteil. Es nimmt religiöse Dimensionen an, wenn weiter geschrieben wurde, dass das Auflehnen gegen das Vergessen der einzige Dienst ist, den man den Millionen Umgebrachten – den um ihr Leben Gebrachten – noch erweisen kann. Die Wahrheit müsste jeden von uns betreffen.

Genau dieses persönliche Betroffensein vermisst man aber in der Berichterstattung der Medien. Angesichts unvorstellbarer Gräueltaten werden meistens Schuldige gesucht, denen das Versagen zugewiesen werden kann, von dem wir uns selbst freisprechen wollen. Als besonders unangenehm werden deshalb in der Öffentlichkeit diejenigen Hinweise aufgenommen, die auf Abgründe in uns selbst deuten. Erinnern wir uns:

Soldaten sind Mörder
Dieses Tucholsky-Zitat beschäftigte die Gerichte bis in unsere Tage. Vieles von dem, was dem kranken Hirn eines Marquis des Sade entsprungen zu sein scheint, wird im Krieg legalisiert. Wer erinnert sich noch an die Diskussionen über die Bilder der Wehrmachtsausstellung? an das Massaker von My Lai? oder an den Folterskandal von Abu-Ghuraib?

Den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Passagierflugzeugs hat der Bundesgerichtshof untersagt; darf dann die Tötung afghanischer Zivilisten bei der Bombardierung gekaperter Tanklaster in Kauf genommen werden? Im Krieg gelten andere Gesetze? Spätestens jetzt müssten wir uns an das Filbinger-Wort erinnern: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein." 1996 entrüsteten sich viele Leser und Nichtleser über das Buch von Daniel Goldhagen "Hitlers willige Vollstrecker". Es machte deutlich, dass für das Funktionieren der Todesmaschinerie auch viele, viele kleine Rädchen nötig waren.

Ich möchte wetten, dass auf den Speichern mancher mittelständischer Patrizierhäuser Chroniken vergilben, in denen die begeisterten Frontberichte der Lehrlinge gesammelt sind, geschmückt mit den typischen Zigaretten-Sammelbildchen jener Zeit, auf denen zum Beispiel martialische Stukas Bomben und Feuer spucken.

Die Suche nach Wahrheit sollte aber nicht nur dem Aufspüren von Schuldigen dienen, sondern der Verhütung des Wiederholbaren. Es wäre schlimm über einen jungen Günter Grass wegen seiner Zugehörigkeit zur SS zu urteilen; allenfalls könnte man bedauern, dass er die nachfolgende Generation nicht zeitiger, intensiver und aufgrund ganz persönlicher Erfahrung auf die Gründe für Irrwege hinwies.

Lieber als "Hitlers willige Vollstrecker" lesen wir natürlich "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk", der sich durch alle Widrigkeiten laviert oder Bohumil Hrabals, "Ich habe den englischen König bedient", ein Schelmenroman über den Opportunismus. Der Wahrheit dürften beide Bücher nicht nahekommen. Die ist eher in den "Wohlgesinnten" von Jonathan Littell zu finden. Dort erfahren wir auch, dass nicht nur die einfachen Schwejks zu Mördern verkommen können, auch zu klassischer Musik lässt es sich foltern und vergewaltigen.

In Rezensionen wurden die von Jonathan Littell vorgetragenen, pedantisch recherchierten Gräuel kritisiert. Sie sind in der Tat unfassbar, schwer zu lesen – und doch wahr. Und mindestens ein Satz sollte sich allen Lesern des Buches einprägen:

"Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig", erklärt Max Aue (der fiktive Erzähler der Wohlgesinnten) gleich zu Beginn seines Berichts. "Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können. Vielleicht mit weniger Eifer, dafür möglicherweise auch mit weniger Verzweiflung."
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Im Blog wurden folgende Bücher erwähnt:

Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten
Roman. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2008
BVT Berliner Taschenbuch Verlag, Bd. 628, € 18,00

Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker
Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocoust.
Goldmann Taschenbücher Bd. 15088, € 12,50

Bohumil Hrabal, Ich habe den englischen König bedient
Roman. Suhrkamp Taschenbücher Nr. 1754, € 9,00

Jaroslav Hasek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk
Roman. Aufbau Taschenbücher Bd. 6108. € 12,95