Die Verwirrung des Daniel Kehlmann
"Die Natur ist Satans Kirche"
Wie kommt es, dass vieles was im finstren Mittelalter gang und gäbe war, heute als überwunden gilt und dennoch in unseren Köpfen sitzt und jederzeit ausbrechen kann?
Einfacher gefragt:
Haben wir bestialisches Denken und Wünschen wirklich abgelegt?
Könnten wir uns heute nicht mehr an einer öffentlichen Hinrichtung freudvoll ergötzen? Verursacht uns die Marter der Gefolterten Erbarmen oder Lust? Daniel Kehlmann, prominenter Bestsellerautor (zuletzt erschien von ihm „Ruhm") bespricht in DIE ZEIT, Nr. 37, 3. September 2009 Lars von Triers Film "Antichrist". Unter der Überschrift DIE NATUR IST SATANS KIRCHE schreibt dort Kehlmann:
„Alles, was man über diesen Film hört, ist wahr. Seine Brutalität ist fast unerträglich, er ist blutig, dunkel und grausam, er enthält eine Verstümmelungsszene, die man, hat man sie gesehen, lieber nicht gesehen hätte, und sein Weltbild ist im umfassenden Wortsinn mittelalterlich..."
Das soll, könnte man meinen, genügen, um sich bei diesem Film für oder gegen einen Kinobesuch zu entscheiden. Aber nein, Daniel Kehlmann braucht weitere 167 Zeilen, auf denen er den „Antichrist" als ein außergewöhnliches Kunstwerk über das wahre Böse, den reinen Horror und den albtraumhaften Ekel feiert.
O-Ton Kehlmann: „ Dass aus der Fleischeslust Unheil erwächst, dass der Teufel der Herr der Natur ist, dass es Hexen gibt, die mit ihm im Bunde sind, und dass gegen seine dunkle Gewalt keine Therapie, sondern nur entschlossene Gegengewalt und reinigendes Feuer helfen, sind ja keine sozialpolitischen Thesen, sondern altbewährte Motive des Märchens und der Schauerromantik."
Und, das vergaß Daniel Kehlmann, sie sind auch Inhalt einer überwundenen mittelalterlichen Theologie. Aber vielleicht finden sich ja Theologen oder auch Buchhändler, die Kehlmann (und Lars von Trier) auf eine zeitgemäßere Interpretation des Bösen hinweisen.
Ansonsten: Wem mittelalterliches Denken und Perversionen fehlen, der weiß jetzt wo er sich befriedigen kann.
Siehe auch Blog "Aufgelesen".
"Und, das vergaß Daniel Kehlmann, sie sind auch Inhalt einer überwundenen mittelalterlichen Theologie."
Das stimmt natürlich, hat aber nichts mit Kehlmanns Kritik oder dem Film selbst zu tun, schließlich bezieht sich Kehlmann explizit auf die Märchenmotivik. Dieser Text bringt mich zu zwei Schlussfolgerungen: Zum einen niemals Rückschlüsse auf einen Film ziehen, wenn man ihn nur durch eine Kritik kennt. Und zum anderen Kritiken und überhaupt Texte ohne vorgefasste Meinung lesen. Von Trier geht es nicht um eine "zeitgemäßere Interpretation des Bösen" sondern darum, das Böse spürbar werden zu lassen, ein Ziel, das wohl fast jedem Horrorfilm zugrunde liegt. Und das scheint ja auch zu funktionieren, wenn Sie den Film - ohne ihn gesehen zu haben - schon als Perversion empfinden.
Danke tontraegerhoerer. Dies ist auf jeden Fall ein diskussionswürdiger Standpunkt. Allerdings nehme ich eine andere Position ein.
1. Mich fordert eine Kritik immer heraus, Rückschlüsse zu ziehen: Auf den Film (auch wenn ich ihn nur aus der Kritik kenne), auf den Kritiker – oder auf beide. Aus welchem anderen Grund sollte ich sonst eine Kritik lesen? Nur wegen der Werbung? Dann sollten Kritiker gleich Werbetexter werden.
2. Kritiken ohne vorgefasste Meinung lesen? Was heißt das? Kritiklos zuhören? - Nein, dagegen wehre ich mich ganz entschieden.
Wer von uns weiß wirklich, um was es Lars von Trier in seinem Film „Antichrist“ geht? Ich vermute allerdings, dass er weder einen reinen Horror- noch einen reinen Märchenfilm drehen wollte und dass eine philosophisch theologische Interpretation seinem (künstlerischen) Anliegen am besten gerecht wird.
Ganz subjektiv: Ich will mir keinen Film anschauen, in dem mir Scheußlichkeiten versprochen werden, von denen ich nachher sage, ich hätte sie lieber nicht gesehen. Ich verstehe auch, dass gerade dieses Versprechen viele zum Kinobesuch locken wird.