November 2024 |
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Vor drei Jahren fiel der damals knapp dreißigjährige Günter Grass durch ein Bändchen Lyrik und Kurzprosa auf, dessen Titel "Die Vorzüge der Windhühner" gute Laune verhieß und dessen Lektüre dieses Versprechen hielt, wenn auch auf leise unheimliche, nicht ganz geheure Art. Namentlich einige kurze Gedichte, in der Art absurder Sinnsprüche verrieten ein originelles Additionstalent, das seine beunruhigenden Wirkungen durch Summierung und planvolle Zusammenfügung von Unzusammengehörigem erzielte. Nun hat der Autor den Sprung zur großen Erzählung gewagt und der ist in seinem Fall nicht so überraschend wie es den Anschein hat. Die Verse von Grass wurzelten durchweg in konkreten Situationen. Wie diese jeweils durch einen Trick in Frage gestellt und entwirklicht wurden, wie sie aber gerade dadurch durch die kecke Umgruppierung der realen Elemente, eine Vielzahl oft erschreckender latenter Bedeutungen offenbarten – das war ein Vorgang, den man sich auch anders als im lyrischen Medium vorstellen konnte. Der Erzähler, als welcher der Autor nun mit dem vollen Gewicht von nicht weniger als 736 Seiten auftritt, kündigte sich bereits an.
Nihilismus pur
Tatsächlich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Gedichten wie dem "Mißlungenen Überfall" und der "Mückenplage" und dem vorliegenden Roman. In jedem Fall stimmen die Details – Grass ist wie viele seiner Generation ein Fanatiker des Details – doch die Anordnung des einzelnen macht das Ganze zur Fratze. Die Fratze aber, so spüren wir mit einigem Unbehagen, erhebt Anspruch darauf, das wahre Gesicht zu sein. Grass geht, was dies anlangt, in seinem Roman noch radikaler vor als in seiner Lyrik. Indem er die Welt aus der Sicht eines trommelschlagenden Kretins beschreibt, wählt er eine Perspektive, die von vornherein jede Verzerrung legitimiert. Ja, die Möglichkeiten lustvoller Deformation sind noch weiter gestuft und verfeinert; denn dieser quäkende Gnom, der mit magischer Stimmkraft jedes Glas zu brechen imstande ist (ausgenommen das von Kirchenfenstern!), ist ein freiwillig Zurückgebliebener, einer, der sich durch einen Willensakt vorsätzlich im Stande eines bettnässenden, schmuddligen Kindermund verzapfenden Dreijährigen hält. Wir haben es hier – und das ist von einer bravourösen Widerwärtigkeit – mit einer totalen Existenzkarikatur zu tun: mit einem nicht nur frohlockend auf sich genommenen, sondern vollbewusst herbeigeführten Kretinismus, mit einer wütenden Intelligenz, die sich unter schnarrendem Gelächter in einen Froschleib zurückzieht, jede Verantwortung von sich weisend, nur bereit zu schnuppern und zu schmatzen, zu keckern und sabbern, auf eine Kindertrommel zu schlagen und Schaufensterscheiben oder Einmachegläser zerscherben zu lassen. Die Rückkehr zur Nabelschnur als Programm eines totalen, höchst mit sich zufriedenen, höchst vergnügten Nihilismus!
Ein schauerlich entgleister Peter Pan
Auch dass der grässliche Brüller sich mit einundzwanzig Jahren überraschend entschließt, doch noch ein paar Zentimeter zu wachsen, und es unter Qual und Fieberschauern von 94 Zentimeter auf 1,23 Meter bringt – auch das ändert kaum etwa an dem nichtswürdigen Tatbestand. Im Gegenteil, es vollendet ihn. Was bisher noch unter dem Motto einer freilich wenig liebenswerten Kindlichkeit hingehen mochte, erweist sich nun endgültig als böser, willentlicher Affront gegen Natur und Menschenpflicht. Aus einem "anhaltend Dreijährigen" ist ein schauerlich entgleister Peter Pan geworden, der sich – missraten und fidel – in einer Freizone zwischen Kindheit und Erwachsensein aufhält. Trotzdem verwischt dieser späte, nicht ganz zulänglich motivierte Entschluss zu zusätzlichem Wachstum die Grundkonzeption ein wenig. Offenbar handelt es sich dabei um eine vorwiegend erzähltechnische Manipulation, mit welcher der Verfasser, seinen Helden aus der Monotonie der Säuglingsrolle befreien und ihm neue Spiel- und Jagdgründe erschließen wollte.
Eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit
Wie dem auch sei, man darf Günter Grass bescheinigen, dass ihm mit seinem Oskar Matzerath, der uns da – von der Wiege in einem Danziger Kolonialwarenladen bis zur wohlverdienten Zelle in einer Heil- und Pflegeanstalt – seine krause Biographie, versetzt mit Zeitgeschichte, ins Ohr trommeln darf, eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit gelungen ist. Der fanatische Säugling und Wechselbalg aus freien Stücke, der im Kleiderschrank oder unter der Tischdecke Beobachtungsposten bezieht, um als kindlicher Voyeur verächtlich und genießerhaft zugleich die Zoologie der Erwachsenen zu studieren, vereinigt sich mit dem besessenen Trommler zu einer gezielten Schöpfung, die dem Leser zu schaffen macht. Kleinbürgerliche Verkommenheit, der braune Marschtritt; der Infantilismus einer Epoche, die Umgang mit dem Äußersten pflegt, aber unfähig der bescheidensten Menschlichkeit ist – solche und andere Assoziationen stellen sich ein. Freilich, ohne auch nur einmal jene Höhe eines erhabenen Schreckens zu erreichen, wo das Geschehen, bei aller schändlichen Komik, ins Tragische umschlüge und damit sinnvoll würde.
Die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen
Sinnvoll, das hieße: wo es kathartische Wirkung erreichte. Doch die bleibt aus, die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen, sofern er überhaupt eines ist. Was Grass schildert und wie er es schildert, fällt nur zum Teil auf die Sache, zum andern Teil auf den Autor selbst zurück. Es kompromittiert nachhaltig nicht nur sie, sondern auch ihn – so stark und unverkennbar ist das Behagen des Erzählers an dem, was er verächtlich macht, so penetrant die artistische Genüsslichkeit, mit der er ins Detail eines unappetitliche l’art pour l’art steigt. Wozu der Pferdekopf mit Aalgewimmel, wozu der Notzuchtversuch an einer Holzfigur, wozu das Schlucken einer mit Urin versetzten Brühe, die Brausepulverorgien, das zuckende Narbenlabyrinth auf dem Rücken eines Hafenkellners? Weil es dem Autor ganz offenkundig Spaß macht, sein allezeit parates Formulierungstalent daran zu erproben – wobei er sinnigerweise mit besonderer Vorliebe bei dem Vorgang des Erbrechens und der detaillierten Beschreibung des dabei zutage Geförderten verweilt. Grass kann im Gegensatz zu Joyce – wenn dieser unangemessene Vergleich für einen Augenblick gestattet ist - nicht für sich in Anspruch nehmen, dass es ihm auf eine vollständige Bestandsaufnahme des Weltinventars angekommen sei, aus der er das Obszöne nicht wirklich habe ausklammern können. Er gibt keine Welttotale, sondern einen sehr subjektiven, sehr tendenziösen Ausschnitt – eine Spezialitätenschau. Es scheint, er braucht das Ekelhafte, um produktiv zu werden, ebenso wie er das fragwürdige Überlegenheitsgefühl des intellektuellen Zuchtmeisters braucht und genießt. Der Autor schlägt zu, und er trifft die richtigen Objekte, aber die Wollust des Peitschens und Treffens ist so offensichtlich, dass sie die Rechtmäßigkeit der Bestrafung in Frage stellt. Hier dominiert nicht der tragische Sinn, nicht jenes Grauen, aus dem die Erlösung kommt, sondern das unverhohlene Vergnügen daran, der Menschheit am Zeuge zu flicken. So hinterlässt das überfüllte Buch am Ende den Eindruck einer wahrhat grässlichen Leere. In seinem konsequent antihumanen Klima gibt es nur eines, woran man sich halten kann, den Selbsthass.
Keine Visitenkarte für eine neue Literatur
Damit kommt dieser Roman zweifellos einem versteckten Bedürfnis der Zeit entgegen: das Unverarbeitete der Epoche, das Übermaß an Schuld, an dem sie trägt, und die Anmaßung, mit der sie sich darüber hinwegzusetzen sucht, lassen den Menschen insgeheim nach Erniedrigung verlangen. In diesem Buch wird sie uns in überreichem Maß gegeben – aber so, dass den Gebeutelten doch nicht ganz das Lachen vergeht. Der Autor räumt ihnen großmütig das Recht ein, ihrer selbst spotten zu dürfen, und augenscheinlich sind sie dankbar dafür. Von daher erklärt sich – zu einem Teil – der sonderbare Erfolg des Buches. Der andere Teil heißt: geschickte Lancierung, ein nahezu vorfabrizierter Sieg. Die Gruppe 47 ließ es sich nicht nehmen, den Roman preiszukrönen, noch ehe er fertig war. Der Verlag bearbeitet die Blechtrommel der Propaganda mit beiden Fäusten und mit den Füßen dazu. Die Öffentlichkeit wird planmäßig eingeschüchtert, indem man ihr einen neuen Rabelais und Grimmelshausen verheißt. Ich würde sagen: Christian Reuter genügt. Schelmuffsky 1959. Auch das ist ja schon ganz hübsch, wenn es auch nicht gerade die Visitenkarte ist, die man sich für eine neue Literatur wünschen möchte.
GÜNTER BLÖCKER