Sonntag, 1. November 2009
Rückkehr zur Nabelschnur
50 Jahre Blechtrommel



1959 erschien die erste Auflage der "Blechtrommel" und war von Anfang an ein Verkaufsschlager wie man damals die Bestseller nannte. Fragt man heute Leser aus den 50er Jahren hört man oft, dass der Erfolg dieses Romans gar nicht so sehr in der Aufarbeitung einer schlimmen Epoche gesehen wurde, sondern im vorauseilenden Ruf, er enthalte skandalöse Pornographie. Wer sich damals für die Frage interessierte, wie es zum Nazi-Deutschland kommen konnte und welche Mitschuld die Eltern daran hatten, fand die Antwort weder in der "Blechtrommel" und selten auch sonst wo. Es wurde geschwiegen, verfälscht und übertüncht – wie auf den Vereinsbildern in Wirtshäusern; dort hingen noch die mit Eichenlaub umrahmten Erinnerungsfotos, deren vier Ecken jeweils ein Hakenkreuz schmückte - dieses allerdings hatte man durch Überkleben unkenntlich gemacht.

Günter Blöcker, 2006 im Alter von 93 Jahren gestorben, galt als einer der angesehensten deutschen Literaturkritiker und Essayisten. In der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 28.11.1959 schrieb er über die "Blechtrommel" einen ziemlichen Verriss. Diese Rarität veröffentlichen wir hier. Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir einige Zwischenüberschriften eingefügt und auch die "bissigen" Vignetten sind im Originaltext nicht enthalten. Außerdem haben wir den Originaltext weitgehend der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Günter Grass zollt der Rezension Günter Blöckers durchaus Respekt, "weil dieser Mann das Buch gelesen hat" (etwas, was Günter Grass bei heutigen Kritikern) oft vermisst.

Über die "Blechtrommel" wurde immer sehr kontrovers diskutiert und selbstverständlich lässt es sich auch Günter Blöcker widersprechen. Wenn, dann aber bitte nicht mit dem Lobgesang großer Internetbuchhändler, die nur die Werbung der Verlage nachbeten: "Ein Buch der Weltliteratur – eine literarische Sensation – einer der wichtigsten deutschen Romane." Erwünscht sind Begründungen und Argumente.

Viele Leser zum Geburtstag!
Hier die Rezension von Günter Blöcker in der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 28.11.1959:


Rückkehr zur Nabelschnur

Vor drei Jahren fiel der damals knapp dreißigjährige Günter Grass durch ein Bändchen Lyrik und Kurzprosa auf, dessen Titel "Die Vorzüge der Windhühner" gute Laune verhieß und dessen Lektüre dieses Versprechen hielt, wenn auch auf leise unheimliche, nicht ganz geheure Art. Namentlich einige kurze Gedichte, in der Art absurder Sinnsprüche verrieten ein originelles Additionstalent, das seine beunruhigenden Wirkungen durch Summierung und planvolle Zusammenfügung von Unzusammengehörigem erzielte. Nun hat der Autor den Sprung zur großen Erzählung gewagt und der ist in seinem Fall nicht so überraschend wie es den Anschein hat. Die Verse von Grass wurzelten durchweg in konkreten Situationen. Wie diese jeweils durch einen Trick in Frage gestellt und entwirklicht wurden, wie sie aber gerade dadurch durch die kecke Umgruppierung der realen Elemente, eine Vielzahl oft erschreckender latenter Bedeutungen offenbarten – das war ein Vorgang, den man sich auch anders als im lyrischen Medium vorstellen konnte. Der Erzähler, als welcher der Autor nun mit dem vollen Gewicht von nicht weniger als 736 Seiten auftritt, kündigte sich bereits an.

Nihilismus pur
Tatsächlich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Gedichten wie dem "Mißlungenen Überfall" und der "Mückenplage" und dem vorliegenden Roman. In jedem Fall stimmen die Details – Grass ist wie viele seiner Generation ein Fanatiker des Details – doch die Anordnung des einzelnen macht das Ganze zur Fratze. Die Fratze aber, so spüren wir mit einigem Unbehagen, erhebt Anspruch darauf, das wahre Gesicht zu sein. Grass geht, was dies anlangt, in seinem Roman noch radikaler vor als in seiner Lyrik. Indem er die Welt aus der Sicht eines trommelschlagenden Kretins beschreibt, wählt er eine Perspektive, die von vornherein jede Verzerrung legitimiert. Ja, die Möglichkeiten lustvoller Deformation sind noch weiter gestuft und verfeinert; denn dieser quäkende Gnom, der mit magischer Stimmkraft jedes Glas zu brechen imstande ist (ausgenommen das von Kirchenfenstern!), ist ein freiwillig Zurückgebliebener, einer, der sich durch einen Willensakt vorsätzlich im Stande eines bettnässenden, schmuddligen Kindermund verzapfenden Dreijährigen hält. Wir haben es hier – und das ist von einer bravourösen Widerwärtigkeit – mit einer totalen Existenzkarikatur zu tun: mit einem nicht nur frohlockend auf sich genommenen, sondern vollbewusst herbeigeführten Kretinismus, mit einer wütenden Intelligenz, die sich unter schnarrendem Gelächter in einen Froschleib zurückzieht, jede Verantwortung von sich weisend, nur bereit zu schnuppern und zu schmatzen, zu keckern und sabbern, auf eine Kindertrommel zu schlagen und Schaufensterscheiben oder Einmachegläser zerscherben zu lassen. Die Rückkehr zur Nabelschnur als Programm eines totalen, höchst mit sich zufriedenen, höchst vergnügten Nihilismus!

Ein schauerlich entgleister Peter Pan
Auch dass der grässliche Brüller sich mit einundzwanzig Jahren überraschend entschließt, doch noch ein paar Zentimeter zu wachsen, und es unter Qual und Fieberschauern von 94 Zentimeter auf 1,23 Meter bringt – auch das ändert kaum etwa an dem nichtswürdigen Tatbestand. Im Gegenteil, es vollendet ihn. Was bisher noch unter dem Motto einer freilich wenig liebenswerten Kindlichkeit hingehen mochte, erweist sich nun endgültig als böser, willentlicher Affront gegen Natur und Menschenpflicht. Aus einem "anhaltend Dreijährigen" ist ein schauerlich entgleister Peter Pan geworden, der sich – missraten und fidel – in einer Freizone zwischen Kindheit und Erwachsensein aufhält. Trotzdem verwischt dieser späte, nicht ganz zulänglich motivierte Entschluss zu zusätzlichem Wachstum die Grundkonzeption ein wenig. Offenbar handelt es sich dabei um eine vorwiegend erzähltechnische Manipulation, mit welcher der Verfasser, seinen Helden aus der Monotonie der Säuglingsrolle befreien und ihm neue Spiel- und Jagdgründe erschließen wollte.

Eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit
Wie dem auch sei, man darf Günter Grass bescheinigen, dass ihm mit seinem Oskar Matzerath, der uns da – von der Wiege in einem Danziger Kolonialwarenladen bis zur wohlverdienten Zelle in einer Heil- und Pflegeanstalt – seine krause Biographie, versetzt mit Zeitgeschichte, ins Ohr trommeln darf, eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit gelungen ist. Der fanatische Säugling und Wechselbalg aus freien Stücke, der im Kleiderschrank oder unter der Tischdecke Beobachtungsposten bezieht, um als kindlicher Voyeur verächtlich und genießerhaft zugleich die Zoologie der Erwachsenen zu studieren, vereinigt sich mit dem besessenen Trommler zu einer gezielten Schöpfung, die dem Leser zu schaffen macht. Kleinbürgerliche Verkommenheit, der braune Marschtritt; der Infantilismus einer Epoche, die Umgang mit dem Äußersten pflegt, aber unfähig der bescheidensten Menschlichkeit ist – solche und andere Assoziationen stellen sich ein. Freilich, ohne auch nur einmal jene Höhe eines erhabenen Schreckens zu erreichen, wo das Geschehen, bei aller schändlichen Komik, ins Tragische umschlüge und damit sinnvoll würde.

Die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen
Sinnvoll, das hieße: wo es kathartische Wirkung erreichte. Doch die bleibt aus, die Lektüre dieses Romans ist ein peinliches Vergnügen, sofern er überhaupt eines ist. Was Grass schildert und wie er es schildert, fällt nur zum Teil auf die Sache, zum andern Teil auf den Autor selbst zurück. Es kompromittiert nachhaltig nicht nur sie, sondern auch ihn – so stark und unverkennbar ist das Behagen des Erzählers an dem, was er verächtlich macht, so penetrant die artistische Genüsslichkeit, mit der er ins Detail eines unappetitliche l’art pour l’art steigt. Wozu der Pferdekopf mit Aalgewimmel, wozu der Notzuchtversuch an einer Holzfigur, wozu das Schlucken einer mit Urin versetzten Brühe, die Brausepulverorgien, das zuckende Narbenlabyrinth auf dem Rücken eines Hafenkellners? Weil es dem Autor ganz offenkundig Spaß macht, sein allezeit parates Formulierungstalent daran zu erproben – wobei er sinnigerweise mit besonderer Vorliebe bei dem Vorgang des Erbrechens und der detaillierten Beschreibung des dabei zutage Geförderten verweilt. Grass kann im Gegensatz zu Joyce – wenn dieser unangemessene Vergleich für einen Augenblick gestattet ist - nicht für sich in Anspruch nehmen, dass es ihm auf eine vollständige Bestandsaufnahme des Weltinventars angekommen sei, aus der er das Obszöne nicht wirklich habe ausklammern können. Er gibt keine Welttotale, sondern einen sehr subjektiven, sehr tendenziösen Ausschnitt – eine Spezialitätenschau. Es scheint, er braucht das Ekelhafte, um produktiv zu werden, ebenso wie er das fragwürdige Überlegenheitsgefühl des intellektuellen Zuchtmeisters braucht und genießt. Der Autor schlägt zu, und er trifft die richtigen Objekte, aber die Wollust des Peitschens und Treffens ist so offensichtlich, dass sie die Rechtmäßigkeit der Bestrafung in Frage stellt. Hier dominiert nicht der tragische Sinn, nicht jenes Grauen, aus dem die Erlösung kommt, sondern das unverhohlene Vergnügen daran, der Menschheit am Zeuge zu flicken. So hinterlässt das überfüllte Buch am Ende den Eindruck einer wahrhat grässlichen Leere. In seinem konsequent antihumanen Klima gibt es nur eines, woran man sich halten kann, den Selbsthass.


Keine Visitenkarte für eine neue Literatur
Damit kommt dieser Roman zweifellos einem versteckten Bedürfnis der Zeit entgegen: das Unverarbeitete der Epoche, das Übermaß an Schuld, an dem sie trägt, und die Anmaßung, mit der sie sich darüber hinwegzusetzen sucht, lassen den Menschen insgeheim nach Erniedrigung verlangen. In diesem Buch wird sie uns in überreichem Maß gegeben – aber so, dass den Gebeutelten doch nicht ganz das Lachen vergeht. Der Autor räumt ihnen großmütig das Recht ein, ihrer selbst spotten zu dürfen, und augenscheinlich sind sie dankbar dafür. Von daher erklärt sich – zu einem Teil – der sonderbare Erfolg des Buches. Der andere Teil heißt: geschickte Lancierung, ein nahezu vorfabrizierter Sieg. Die Gruppe 47 ließ es sich nicht nehmen, den Roman preiszukrönen, noch ehe er fertig war. Der Verlag bearbeitet die Blechtrommel der Propaganda mit beiden Fäusten und mit den Füßen dazu. Die Öffentlichkeit wird planmäßig eingeschüchtert, indem man ihr einen neuen Rabelais und Grimmelshausen verheißt. Ich würde sagen: Christian Reuter genügt. Schelmuffsky 1959. Auch das ist ja schon ganz hübsch, wenn es auch nicht gerade die Visitenkarte ist, die man sich für eine neue Literatur wünschen möchte.
GÜNTER BLÖCKER




Dienstag, 20. Oktober 2009
Buchmesse 2009: War’s das?


Gastland war China. Das garantierte den medientauglichen Aufruhr. Die Stimme der Dissidenten war eine Woche lang hörbarer als alle Monate zuvor. Dann gab es auch noch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Claudio Magris erhielt ihn. Und was berichtet der "unbekannte Leser" von der Buchmesse? Wir fanden einen, der nach dem Besuch der Buchmesse fröhlich bloggte:

"Und nun sind auch unsere Amazon-Wunschlisten wieder gefüllt. Was will man mehr? Ich freue mich schon aufs nächste Jahr!"

So eine Aussage dürfte allerdings die 6000 deutschen Buchhandlungen unruhig machen und nachdenklich, ob diese Art von Buchmesse nicht doch ein alter Zopf ist und ob man nicht bessere Möglichkeiten finden müsste, um Leser zu gewinnen für den Buchhandel (nicht für Amazon).

Bücher AbissZ fühlt sich an Ror Wolf erinnert und zitiert aus „HANS WALDMANNS ABENTEUER“:

ist das wirklich alles schon gewesen?
fragt die witwe gähnend den chinesen,
denn mit stäbchen und mit liebesmücken
kann man mich auf keinen fall entzücken.
Alles ist verschwommen und verschmiert.
Aber sonst ist nicht sehr viel passiert.



Sonntag, 18. Oktober 2009
Religionsmonitor


Noch mal zur Gretchenfrage
Wir haben es bereits mitgeteilt: unter www.religionsmonitor.com kann man sich (seit 2007) den Grad seiner persönlichen Religiosität messen lassen. Die repräsentative Studie der Bertelsmann Stiftung gibt Auskunft wie sich Religiosität innerhalb und außerhalb der institutionalisierten Kirchen zeigt - was auch für einen Teil des Buchmarkts Folgen haben kann.

Obwohl Bücher AbissZ gegenüber Wissenschaftlern Respekt hat, bekamen wir beim Lesen der Testfragen manchmal große Augen und leichtes Kopfschütteln. Warum, das wird hier begründet.


Der Religionsmonitor fragt: Wie häufig meditieren Sie?
Bücher AbissZ grübelt: Was heißt eigentlich "meditieren"? Heißt es nachdenken über etwas oder heißt es sich konzentrieren auf etwas – oder heißt es etwas ganz anderes? Kann man überhaupt meditieren ohne es erlernt zu haben?

Der Religionsmonitor fragt: Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, mit Allem Eins zu sein?
Bücher AbissZ grübelt: Seltsame Frage. Wie ist sie zu verstehen? Werde ich hier über mein Sexualleben ausgefragt? Dann antworte ich mit Luther: "In der Woche zwier, schadet weder ihm noch ihr." Bin ich jetzt religiös?

Der Religionsmonitor fragt: Wie oft denken Sie über Leid und Ungerechtigkeiten in der Welt nach?
Bücher AbissZ grübelt: Ist jemand religiös, der z.B. regelmäßig über den Krieg in Afghanistan oder Armut in Deutschland nachdenkt?

Der Religionsmonitor fragt: Einmal abgesehen davon, ob Sie sich selbst als religiöse Person bezeichnen oder nicht, als wie spirituell würden Sie sich selbst bezeichnen?
Bücher AbissZ grübelt: Was heißt das eigentlich, spirituell?

Der Religionsmonitor fragt: Wie wichtig ist für Sie Meditation?
Siehe oben unter "Wie häufig meditieren Sie?"

Der Religionsmonitor fragt: Wie stark leben Sie in Ihrem Alltag nach religiösen Geboten?
Bücher AbissZ grübelt: Wer nicht stiehlt und mordet und auch noch versucht nicht zu lügen, hält sich schon an fast 30 % der Zehn Gebote; oder fallen die zehn Gebote nicht unter die "religiösen Gebote"?

Der Religionsmonitor fragt: Wie stark glauben Sie an die Wirksamkeit von übersinnlichen Mächten?
Bücher AbissZ grübelt: Gehört der Placebo-Effekt auch zu den übersinnlichen Mächten?

Der Religionsmonitor fragt: Wie stark glauben Sie an Astrologie?
Bücher AbissZ grübelt: Ob es eine Astrologie gibt, die ernsthafter ist als die der Illustriertenhoroskope? Oder spielt das bei der Frage überhaupt keine Rolle?

Der Religionsmonitor fragt: Wie stark glauben Sie an die Wirkung von Dämonen?
Bücher AbissZ grübelt: Ist jemand, der nicht an Dämonen glaubt, weniger religiös als jemand der an Dämonen glaubt?

Der Religionsmonitor fragt: Wie oft lesen Sie religiöse oder spirituelle Bücher?
Bücher AbissZ grübelt : Wenn Glaube an Dämonen religiös ist, dann müsste doch BUFFY, IM BANN DER DÄMONEN, Bd.1 als "religiöses Buch" gelten, oder nicht?

Der Religionsmonitor fragt: Wie stark glauben Sie an die Wirkung von Engeln?
Bücher AbissZ wettet, dass viel mehr Menschen an Engel als an Gott glauben? Bücher AbissZ grübelt: Wenn der Glaube an Gott abnimmt, der Glaube an Engel aber zunimmt, wächst dann die Religiösität?

Der Religionsmonitor fragt nach der Stellungnahme zu folgender Behauptung: Ich finde, dass sich Ausländer an den vorherrschenden Lebensstil im Gastgeberland anpassen sollten.
Bücher AbissZ grübelt, was das mit Religion zu tun hat.

Aufgelesen

Der Schauspieler Ewan McGregor, Priester in Dan Browns Romanverfilmung "Iluminati" wurde vor einiger Zeit von Max Fellmann für das SZ-Magazin interviewt. Aus diesem Interview zitieren wir zwei Fragen mit ihren Antworten.

SZ-Magazin: Sind Sie religiös?
Ewan McGregor: Ich wurde nicht religiös erzogen. Also: nein.

SZ-Magazin: Haben Sie irgendetwas, was für Sie religiösen Wert besitzt?
Ewan McGregor: Motorradfahren.