Samstag, 2. Januar 2010
Zeitraffer 2009


Schade...

... so bloggten wir Ende August, dass die Möglichkeiten des Internets von den Verlagen und Buchhandlungen so wenig oder hauptsächlich nur von ihren Werbetextern und Webdesignern genutzt werden. Alles Wissen über eine gute Öffentlichkeitsarbeit scheint verloren gegangen. Die technischen Möglichkeiten, die eine schnelle und fundierte Information aus erster Hand ermöglichen, der direkte Kontakt mit den Kunden, von all dem ist wenig zu sehen oder in Langeweile erstarrt. Werbespot reiht sich an Werbespot. Der 2008 verstorbene Joseph Weizenbaum hat es auf den Punkt gebracht: "Die Computerisierung des Alltags bringt am Ende nicht Kreativität, sondern die große Gleichförmigkeit".*1


Mehr Information und mehr Ehrlichkeit im Angebot
Das waren zwei unserer Forderungen. Zumindest die Händler sollten ihren Kunden alle lieferbaren Ausgaben eines Titels nennen. Als Kunde interessiert mich, ob mein Wunschtitel neben der gebundenen Ausgabe bereits als Taschenbuch existiert oder als Hörbuch oder als E-Book. Interessieren würde mich in welchem Zusammenhang das vorgestellte Buch mit den Richtlinien seines Verlegers, mit anderen (konkurrierenden Titeln) mit aktuellen Gesellschaftsthemen und mit vorgeprägten Meinungen steht. *2

Woher nehmen die Kritiker ihre Kriterien?...
... fragten wir und wissen auch heute keine Antwort. Um die Bedeutung einer Rezension - letztlich einer Meinung – einschätzen zu können, müsste man auch mehr über den Rezensenten wissen, über sein Vorwissen, seine Interessen und seinen Anspruch, nur dann lässt sich seine Aussage einordnen. Man wird den Verdacht nicht los, dass in den Marketingabteilungen der Verlage eifrig Leserbriefe produziert werden, die zur Ankurbelung des Verkaufs Bücher über den grünen Klee loben. Von Herzen kommen solche Rezensionen nicht und seriös ist das auf keinen Fall. *3

Die Verwirrung des Daniel Kehlmann *4
Wie kommt es, dass vieles was im finstren Mittelalter gang und gäbe war, heute als überwunden gilt und dennoch in unseren Köpfen sitzt und jederzeit ausbrechen kann? Daniel Kehlmann pries den (schon wieder vergessenen?) Film Lars von Triers ANTICHRIST und verstieg sich in der ZEIT zu der Frage „Was, wenn die Hexenverbrennungen berechtigt waren? Wenn es den Teufel gibt und wenn böse Frauen existieren, die mit ihm im Bunde sind?“ Wir antworteten darauf mit Die Verwirrung des Daniel Kehlmann und in einem Leserbrief der ZEIT stand: „Das wäre eine glänzende Rechtfertigung der massenhaften Hexenverfolgungen durch die christlichen Kirchen und eine Rehabilitation erster Klasse all der Inquisitoren, Verleumder, Folterknechte, Henker, deren Motive man bislang in kollektivem Wahn, Paranoia, Sexualneurosen und Sadismus gesehen hat. Diese sich so naiv gebärdende und doch so abgefeimte Frage ließe sich, konsequent weitergedacht, für all jene Gruppen von Menschen stellen, die Verfolgung und Massenmord anheimgefallen sind: "Was, wenn sie letztlich zu Recht vernichtet wurden? Weil..." - nun, die Gründe mag Herr Kehlmann sich bei den Mördern selbst abholen." *5

Rückkehr zur Nabelschnur *6
Den 80. von Günter Grass feierten wir mit der ersten Rezension der „Blechtrommel“ in der FAZ. Der große Günter Blöcker verfasste sie 1960. Ein grandioser Verriss. Günter Grass zollt dieser Rezension durchaus Respekt, „weil der Mann das Buch gelesen hat (etwas, das Grass bei heutigen Kritikern oft vermisst).

Wortgeblubber *7
Und wenn es die Kritiker doch gelesen haben und anschließend ihre Rezension schreiben, wer garantiert uns Lesern, dass wir wirklich etwas über das Buch erfahren und nicht nur – wie in einem Beispiel dokumentiert – mit Wortgeblubber Zeit verschwenden?

Buchmesse *8
Insel im Wortgeblubber war wie jedes Jahr die Buchmesse, auf der diesmal China das Gastland war. Als die Stände wieder abgebaut und alle Papierschnippsel weggefegt waren, fühlten wir uns an Ror Wolf (Hans Waldmanns Abenteuer) erinnert:
ist das wirklich alles schon gewesen?
fragt die witwe gähnend den chinesen,...
Alles ist verschwommen und verschmiert.
Aber sonst ist nicht sehr viel passiert.


Jubel, Trubel, Nobelpreis *9
Die Überraschung war groß als Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt. Ihr jüngstes Werk – „Atemschaukel“ – bei Hanser erschienen, war bis zu dem Zeitpunkt von der Kritik ziemlich unbeachtet geblieben. Mittlerweile hat sich das geändert und aus manchen Verächtern ihrer ästhetisierenden Beschreibung von Gräueln wurden Bewunderer. Wir wünschten und wünschen Herta Müller eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrem Werk.

E-Books
Mehrere male beschäftigten wir uns mit dem E-Book. Während anfangs noch mit einem "Endlich papierfrei" bejubelt, machte die Euphorie schnell einer nüchternen Enttäuschung Platz. Die Käufer hielten sich zurück. Die Vorteile des E-Books lassen zu wünschen übrig. Richtig spannend könnte es dann werden, vermuten wir, wenn Autoren bei der Selbstvermarktung auf das E-Book zurückkommen. *10

Mein Tipp für Verlage
Vorteilhaft wären die E-Books, wenn sie wirklich eine preisliche Alternative böten. Das ist nicht der Fall, und was einem die Verlage an Vorteilen aufschwatzen wollen, ist einfach lächerlich. Von den jährlich 140000 neuen Büchern kann ich mir leider nur einen Bruchteil leisten und von dieser eingekauften Lektüre erscheint mir nachträglich ein Großteil relativ überflüssig. Mein Problem ist die Buchentsorgung. Irgendwie scheue ich mich, Bücher ganz einfach in die Mülltonne zu werfen und außerdem ärgere ich mich, wenn ich meinen Etat für Bücher nicht besser anlegen konnte. Die Lösung wäre, wenn ich zum Beispiel Novitäten für die Dauer von sagen wir 14 Tagen herunterladen (ausleihen) könnte. Nach Ablauf dieser Frist könnte sich die Datei selbst löschen und selbstverständlich wäre auch nichts einzuwenden gegen einen Kopierschutz. Für eine solche befristete Ausleihe würde ich dem Verlag pro Titel gern drei Euro bezahlen. *11

Wer hätte das gedacht?
Der Religionsmonitor *12 der Bertelsmannstiftung prüft seit geraumer Zeit die Religiosität der Menschen. Und was ist das Ergebnis? Danach sind wir alle mehr oder weniger religiös. Ob das allerdings einen frommen Bücherboom zur Folge hat, scheint fraglich; denn um religiös zu sein muss man nicht an Gott oder Teufel oder Engel glauben. Es genügt schon so zu reagieren wie der Schauspieler Ewan McGregor (Darsteller eines Priesters im Film Illuminati). Er antwortete im Interview auf die Frage "Besitzt etwas für Sie religiösen Wert?" schlicht und einfach: "Motorradfahren".

Wettstreit der Religionen
Dass Religionen die Gesellschaft prägen steht außer Frage. In Berlin tobte eine Art Kulturkampf um die Frage Ethik oder Religion. *13 Wer von beiden sollte an Schulen das Vorrecht haben Pflichtfach zu sein? Die streitbare Ayaan Hirsi Ali und der nicht weniger streitbare Tariq Ramadan kriegten sich in die Haare. Forderte die bekannte Frauenrechtlerin wegen schreiender Ungerechtigkeiten eine Entislamisierung der Muslime kontert der andere, dass nur Menschen, die ihre kulturellen, religiösen und intellektuellen Ghettos verlassen, einen Kampf der Kulturen verhindern können. *14

Schade lieber Börsenverein
Solche Menschen waren allerdings in der Schweiz in der Minderheit als dort über den Bau von Minaretten abgestimmt wurde. Vergessen war der alte Lessing und der noch ältere Ramon Lull. Auch Buchhandel und Börsenverein haben das Gedächtnis eines Siebs. Oder ist es Absicht, dass nicht mehr an Annemarie Schimmel erinnert wird, die 1995 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wurde? Eine Anerkennung für ihr Versöhnungswerk mit dem Islam. Die Wellen schlugen hoch damals und es gab auch viel Ablehnung. Es lohnt sich auch heute noch die Laudatio vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zu lesen und natürlich auch die Dankesrede von Annemarie Schimmel.
Alles im Internet zu finden. Schade, lieber Börsenverein, dass Sie nicht darauf aufmerksam machen. Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels sollte doch mehr wert sein als das Preisgeld!
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* 1 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchhandel & Internet, 1. 26.08.2009
* 2 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchhandel & Internet, 3. 27.08.2009
* 3 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Blödsinnig. 29.09.2009
* 4 Zur Diskussion: Die Verwirrung des Daniel Kehlmann. 0 4.09.2009
* 5 Aufgelesen: Abgefeimte Frage. 17.09.2009
* 6 Zur Diskussion: Rückkehr zur Nabelschnur. 01.11.2009
* 7 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Wortgeblubber. 02.10.2009
* 8 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Buchmesse 2009. War’s das? 20.10.2009
* 9 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: Jubel, Trubel, Nobelpreis. 08.10.2009
*10 Beobachtungen auf dem Buchmarkt: bye bye e-book. 20.09.2009
*11 Zur Diskussion: Mein Tipp für Verlage. 28.11.09
*12 Zur Diskussion: Religionsmonitor. 18.10.09
*13 Zur Diskussion: Buch und Kirche. 14.12.09
*14 Zur Diskussion: Wettstreit der Religionen? 01.09.09