Montag, 14. Dezember 2009
Buch und Kirche


Vor kurzem tobte in Berlin eine Art Kulturkampf. Ethik oder Religion? Hebt das eine das andere auf? Wer von beiden hat das Vorrecht, Pflichtfach an den Schulen zu sein? Ein Bürgerbegehren hat die Entscheidung gebracht. Beigelegt ist der Streit deshalb aber noch nicht. Unterstellen wir mal, dass hier nicht um Machtpositionen gekämpft wurde, sondern um die Vermittlung von Wahrheit(en), von Normen und Werten in den Köpfen der Schüler und beziehen wir in die Diskussion auch die Literatur ein.

Lesen und Vorlesen ist bei Juden, Moslems und Christen so selbst-verständlich wie das Amen in der Kirche, in der Synagoge und in der Moschee. Aber genügt es, ein Leben lang einzig und allein nur in der Tora, der Bibel oder im Koran zu lesen? Die Sprache dieser Heiligen Schriften ist hauptsächlich eine Sprache vergangener Lebenswelten. Moderne Sprache (Literatur) findet dort kaum Aufnahme. Schriftliche „Offenbarung“ scheint in fernen Zeiten stattgefunden zu haben, aber nicht mehr in der Gegenwart. Auch deshalb entdecken moderne Gläubige ihr Gottesbild oder ihr religiöses Gefühl immer häufiger in der Natur oder in östlicher Meditation. Bücher spielen in den sogenannten Buchreligionen (Judentum, Islam, Christentum) nur noch eine kleine Rolle. Dabei ist unbestritten: In der Literatur könnte die Kirche lernen, den Menschen neu zu verstehen.
Natürlich werden Kirchenmänner nicht zu jeder Literatur Ja und Amen sagen. Theologen und Vertreter der Religionen sehen in der "weltlichen" Literatur oftmals einen Konkurrenten, der ihrer Verkündigung gefährlich werden kann. Literatur kann die Heilsbotschaft der Religionen in Frage stellen und dennoch Trost geben und Geborgenheit vermitteln. Literatur kann Normen und Werte zum Entsetzen der Kirchen in ihr Gegenteil verkehren. Weltlichkeit und Gläubigkeit kämpfen gegeneinander immer wieder um die Deutungshoheit.
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Verhältnis der Religionen zur Literatur angespannt ist. Während Werte und Normen in der "weltlichen" Literatur immer wieder überdacht, in Frage gestellt und ersetzt werden, versuchen Religionen am Bestehenden festzuhalten. Ihnen ist die Sicherheit der Tradition wichtiger als das Risiko des Experiments, und die Angst einen Fehler zu machen bremst und wirkt oft lähmend.
Noch besser als im Streit um Religionsfreiheit, Minarette und Kopftücher könnten Gläubige und Ungläubige mit einer Diskussion über Bücher zeigen, wes Geistes Kind sie sind. Aber hat man je einen Buchhändler erlebt, der seinen Laden Vertretern der drei Buchreligionen als Plattform zur Verfügung stellte und würden Religionsvertreter ein solches Angebot überhaupt annehmen?
Unerwünscht wären auf einer solchen Plattform Glaubensbücher und Traktate; wie zum Beispiel jene „christliche“ Literatur, die heute noch vielfach im evangelischen Buchmarkt angeboten wird und die bei den Katholiken vor allem in den 60er Jahren diskutiert wurde und damals ihr (vorläufiges) Ende fand.
Hoffnung verheißt das von der EKD neu geschaffene Zentrum für evangelische Predigtkultur, dessen Leiter, Alexander Deeg, im Interview sagte:

"Pfarrer sollten kulturell auf der Höhe der Zeit sein. Sie müssen erkennen, dass es Teil ihrer Arbeit ist, sich im Kino, im Theater, in der Literatur Anregungen zu holen – und kein Freizeitspaß. Wer predigt muss Daniel Kehlmann und Peter Sloterdijk kennen, dazu vielleicht ein aktuelles Theaterstück oder eine Oper; er sollte sich ab und an ein paar Seiten gute Literatur gönnen – um zum Bibelwort der Sonntagspredigt die passende Sprache zu finden."

Die Buchhändler sollten beten, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht, dass die Pfarrer aus ihrem Wissen kein Geheimnis machen und dass sich Rabbis und Imame daran ein Beispiel nehmen. Der Lesekultur könnte es nützen.